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Corona-Talk bei Anne WillDer Wutbürger meldet sich zurück

Lesezeit 5 Minuten
Anne Will dpa ARD

Anne Will

Berlin – Genau vier Wochen ist es her, da debattierte die Runde bei Anne Will noch über die bange Frage “Wie drastisch müssen die Maßnahmen werden?” Der Virologe Alexander Kekulé plädierte für deutlich schnellere und deutlich härtere Einschränkungen des öffentlichen Lebens, und die Politiker mussten sich - ganz ohne Sicherheitsabstand zwischen den Sesseln - dafür verteidigen, die Anti-Corona-Maßnahmen zu langsam eingeleitet zu haben.

„Anne Will“: Über dieses Thema wurde diskutiert

An diesem Sonntag, nur einen Monat später, bot der ARD-Polit-Talk das entgegengesetzte Bild: Fünf Gäste diskutierten in jeweils zwei Metern Entfernung voneinander, ob die “Corona-Einschränkungen”, von denen die meisten schon wieder aufgehoben sind, als Grundrechtseingriffe verhältnismäßig waren.

Das war jedenfalls das vorgegebene Thema - tatsächlich biss sich die Runde aber eher an der Frage fest, wie man mit den Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen umgehen soll. Nicht die einzige Parallele zur Flüchtlingskrise von 2015, fanden einige Gäste - andere sahen kaum Gemeinsamkeiten.

So argumentierten die Gäste bei „Anne Will“ am Sonntag

Karl Lauterbach, für die SPD als Gesundheitsexperte im Bundestag und von Hause aus der bestqualifizierte Politiker für Pandemiefragen - er studierte in Harvard Epidemiologe - firmiert zurzeit als einer der bekanntesten Lockerungs-Skeptiker. Er hätte die Anti-Corona-Maßnahmen lieber noch etwas länger durchgehalten und argumentierte bei “Anne Will” gegen den Schein-Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit: „In der Regel ist das, was für die Gesundheit gut ist, auch gut für die Wirtschaft“, sagte er.

Denn lange Krankheitswellen oder auch ständiges Lockern und Neuverhängen von Schutzmaßnahmen seien für die Unternehmen noch schwerer zu bewältigen. Allerdings räumte Lauterbach ein, dass solche Überlegungen der Bevölkerung “nicht immer” gut genug erklärt worden seien.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war für die FDP Bundesjustizministerin, trat einmal aus Protest gegen Grundrechtsverletzungen durch die eigene Koalition zurück und ist heute Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.

„Nicht die Lockerung muss verhältnismäßig sein, sondern die Beschränkung“

Ganz auf Parteilinie nannte sie die ersten verhängten Lockerungen vom März nötig und verfassungskonform, forderte aber angesichts gesunkener Neuinfektionszahlen nun weitergehende Lockerungen. „Nicht die Lockerung muss verhältnismäßig sein, sondern die Beschränkung“, betonte sie. „Es kann nicht sein, dass wir sagen, bis alles weg ist, machen wir die Schotten zu."

Olaf Sundermeyer, Investigativ-Reporter beim RBB und Experte für rechtsextreme und populistische Protestbewegungen in Deutschland, hat auch die aktuellen “Hygienedemos” und Proteste gegen die Kontaktbeschränkungen besucht. Je mehr gelockert wurde, um so mehr nahmen die Demos zu, hat er beobachtet: „Politaktivisten aus verschiedenen Lagern versuchen, da eine Protestkulisse aufzubauen“, damit - auch durch mediale Vermittlung - der Unmut größer wirke, als er tatsächlich ist.

Tatsächlich lehnen ja mehr als 80 Prozent der Deutschen die Demos ab. Allerdings seien es kaum die Leidtragenden des Lockdowns, die dort mitliefen, so Sundermeyer, sondern eher aus anderem Grunde Unzufriedene. Gerade das würden sich Rechtsradikale und Rechtspopulisten zunutze machen, warnte der Journalist.

Sarah Wagenknecht 0409

Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht, für die Linke im Bundestag, wenn auch inzwischen ohne Ämter, kritisierte - wie alle anderen Gäste an diesem Sonntag - keineswegs die ersten Kontaktsperren und Schutzmaßnahmen. Ihr Punkt war vor allem, dass die Politik sich nicht genug um jene kümmere, die wirtschaftlich darunter leiden. “Es gibt Millionen Menschen in diesem Land, die von der Politik in der Krise ziemlich im Stich gelassen wurden”, sagte sie. Die Maßnahmen seien ja richtig gewesen, aber „die Politik hätte sie viel besser abfedern müssen“. Solo-Selbstständige und kleine Geschäfte könnten mit Einmalzahlungen nicht überleben, Kurzarbeitergeld-Empfänger müssten teilweise zu lange auf die Ersatzleistung warten.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, warnte vor der innerhalb kurzer Zeit “dritten Polarisierungswelle in diesem Land”, nach Flüchtlings- und Klimapolitik. Deshalb dürfe man die Protestierenden nicht pauschal als Irre oder Rechte abtun, so Pörksen: “DIE Demonstranten gibt es nicht, das ist ein relativ bunter Haufen." Wer jetzt pauschalisiere, treibe die Besorgten und Andersdenkenden hin zu “Alternativmedien” und Populisten.

Die Streitfragen des Abends

Folgt man der Debattierrunde, muss Deutschland einen Umgang mit zwei Wellen finden. Nur welchen, das blieb umstritten.

Erstens ist da die nächsten Corona-Infektionswelle - laut Lauterbach muss man damit rechnen, wahrscheinlich im Herbst; laut Leutheusser-Schnarrenberger ist die ständige Drohung damit ein Damoklesschwert, mit dem man die Bürger nur frustriert, aber nicht überzeugt. Für Lauterbach ist klar, dass man im Fall der zweiten Welle schnellere und härtere Ausgangssperren verhängen muss - das sei wirksamer und deshalb kürzer nötig. Zugleich müsse man dann alles, siehe oben, besser erklären.

Die zweite Problemwelle sei die nächste große Polarisierung der Gesellschaft. Zwar rechnete Lauterbach damit, dass die Demonstrationen nicht lange weitergehen: bei einer zweiten Corona-Welle mit Tausenden Toten würden ja alle, die immer noch gegen den Mundschutz aufmarschieren, endgültig als verrückt dastehen; bei einem weiteren Abflachen der Corona-Kurve würden mit den Kontaktsperren ja auch die Gründe der Auflehnung verschwinden. Deshalb sei diese Bewegung auch ganz anders als die gegen Flüchtlinge - denn von denen blieben viele ja da.

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Doch alle Gäste waren sich einig, dass der Unmut über den Lockdown, wahlweise die anstehende Rezession und auch die Not vieler Betroffener, politischer Sprengstoff werden können. Während Sahra Wagenknecht vor allem mehr finanzielle Staatshilfen forderte, ging es dem Rest der Runde eher um die Kommunikation mit den Corona-Kritikern. Der sprichwörtliche Wutbürger meldet sich zurück in der politischen Debatte - und mit ihm die alte Frage: Ignorieren oder diskutieren?

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Bei “Anne Will” bestand Konsens im Punkt “Bitte nicht abkanzeln”. Als Medienwissenschaftler Pörksen - der sich in der Runde insgesamt dafür zuständig fühlte, banale Binsenweisheiten in möglichst komplizierten Formulierungen zu verstecken - erklärte: “Das abwertende Pauschalurteil ist das Garantierezept, um einen Diskurs zu ruinieren“, da verdreht Karl Lauterbach nur noch genervt die Augen: „Das weiß doch jeder!”