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Grenzwerte und trügerische WahrheitenGroßes Rechnen für die richtige Strategie

Lesezeit 7 Minuten

Berlion – Es geht um Zahlen. Wieder einmal. Wenn die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin an diesem Mittwoch über neue Corona-Maßnahmen entscheiden, dann werden sie erneut im Mittelpunkt stehen, als heimliche Stars der Runde: Inzidenzwerte, R-Werte, Positivraten. Nur: Welche dieser Zahlen sind nun wirklich relevant? Welche sagen was aus? Und welche sind in Wahrheit trügerisch?

Das Faszinierende an den Zahlen ist dabei, dass sie zumindest auf den ersten Blick jedem etwas bieten: Dem Beschwichtiger wie dem Alarmisten, Optimisten wie Pessimisten. Die Zuversichtlichen etwa können darauf verweisen, dass das Wachstum bei den Neuinfektionen zum Erliegen gekommen ist. Während die Zahl der täglichen Neuinfektionen im Oktober exponentiell gestiegen ist, flachte die Kurve schon Ende des Monats, gut zwei Wochen nach der Warnung der Kanzlerin vor „Unheil“, langsam ab. In den vergangenen zwei Wochen war die Zahl der Neuinfektionen nahezu konstant, bei gemittelt rund 18.000 bis 19.000 Fällen pro Tag. Hier wirken der Teil-Lockdown und die Appelle also.

Noch rund 6600 Intensivbetten frei

Auch füllen sich die Intensivstationen deutscher Krankenhäuser nicht ganz so schnell mit Covid-19-Patienten, wie noch am Anfang des Monats befürchtet. Eine Verdoppelung im Zehn-Tages-Rhythmus registrierte das Intensivregister da noch – ein Wert, der die Stationen schon Ende dieses Monats zum Kollabieren gebracht hätte. Tatsächlich aber sind, Stand Montag, noch gut 6600 Intensivbetten frei.

Doch leider begründen die Zahlen kaum mehr als oberflächlichen Optimismus. Beispiel Intensivstationen: Hier steigt die Zahl zwar langsamer als zunächst prophezeit, aber eben doch stetig: 3742 Covid-19-Patienten brauchten am Montag intensivmedizinische Behandlung, 33 mehr als am Tag zuvor. Vereinzelt werden bereits die Geräte knapp, die bei einem Lungenversagen das Blut des Patienten außerhalb des Körpers mit Sauerstoff anreichern. Zwar lieferten die Hersteller rasch Leihgeräte, die Situation sei aber deutlich angespannt, erklärt ein Mitarbeiter auf einer Intensivstation gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland).

Inzidenzwert 50 erst im April?

Auch die Zahlen, die die Bundesregierung gerne als Zwischenerfolg der Teil-Lockdown-Strategie anführt, können in Wahrheit wenig Grund zur Entspannung bieten. So stagniert die Zahl der Neuinfektionen zwar seit gut zwei Wochen, aber es gilt seit dem 11. November auch eine veränderte Teststrategie: Seitdem sollen nur noch Patienten mit deutlichen Symptomen oder Kontakt zu einem Infizierten getestet werden. Die strengeren Regeln waren eine Reaktion auf die Klage von Laboren, die überlastet waren. Seitdem ist die Zahl der wöchentlichen Tests nun erstmals wieder gesunken, auf nur noch knapp 1,4 Millionen PCR-Tests pro Woche. Gleichzeitig ist der Anteil der positiven Testergebnisse von 7,9 auf 9 Prozent gestiegen.

Das heißt: Die Zahl der Neuinfektionen ist mit der von Anfang des Monats nur bedingt zu vergleichen. Möglicherweise gibt es einen größeren Teil unentdeckter Infektionen. Und noch eines ist inzwischen klar: Selbst bei einem Rückgang von wöchentlich fünf Prozent würde es bis April dauern, bis Deutschland bei einer Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 Einwohner wäre, so hat es das Science Media Center errechnet. Bei zehn Prozent Rückgang wäre das Ziel immer noch erst im Januar erreicht. Das heißt: Wer schneller sein will, braucht sehr entschlossene Schritte.

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Einig sind sich die Länder, dass angesichts der weiterhin hohen Zahlen die Schutzmaßnahmen verlängert werden müssen. Der aktuelle Teil-Lockdown soll einem Beschlussentfurm nach bis zum 20. Dezember verlängert werden. Bei einer Inzidenz von „deutlich“ unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen und wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, sollen Länder die Möglichkeit bekommen, hiervon abzuweichen.

Silvesterfeuerwerk auf belebten öffentlichen Plätzen und Straßen sollen untersagt werden, um größere Gruppenbildungen zu vermeiden. „Die örtlich zuständigen Behörden bestimmen die betroffenen Plätze und Straßen“, heißt es in dem Länder-Papier. Grundsätzlich wird „empfohlen“, zum Jahreswechsel auf Silvesterfeuerwerk zu verzichten - ein Verkaufsverbot ist demnach aber nicht vorgesehen.

Kontroverse über Schulpolitik

Auch über das Thema Schulen dürfte bis Mittwoch noch kontrovers debattiert werden. Die Unions-Länder wollen eine grundsätzliche Maskenpflicht vor und auf dem Schulgelände und im Schulunterricht in allen Schularten einführen. Ausnahmen in Grundschulen sollen möglich sein. Die SPD will eine Maskenpflicht ab einem Inzidenzwert von „deutlich mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner“ ab der 7. Klasse in allen Schulen. Die Union schlägt vor, die Weihnachtsferien auf den 21. Dezember vorzuziehen. Sowohl Union als auch SPD wollen in Schulen mehr Tests durchführen. Die Union plädiert allgemein für den gezielten Einsatz von Schnelltests. Die SPD will Schnelltests in Klassen mit einem Infektionsfall nach fünftägiger Quarantänezeit der Klasse. Die Union hält Wechsel-Unterricht in Infektionshotspots in höheren Jahrgangsstufen für möglich. Die SPD will dies den Ländern überlassen.

Aus dem Länder-Papier geht hervor: In Regionen mit deutlich mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen soll nach dem Willen der Länder laut Beschlussentwurf künftig ab Klasse sieben grundsätzlich eine Maskenpflicht auch im Unterricht gelten. In „besonderen Infektionshotspots“ soll es demnach in älteren Jahrgängen außer Abschlussklassen schulspezifisch „weitergehende Maßnahmen für die Unterrichtsgestaltung“ geben, beispielsweise Hybridunterricht.

Die Maskenfrage beschäftigt die Ministerpräsidenten nicht nur mit Blick auf die Schulen. Die Länder sprechen sich dafür aus, ab Anfang Dezember die Maskenpflicht zu erweitern. Die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung solle an allen Orten mit Publikumsverkehr in Innenstädten gelten - so auch an Örtlichkeiten in der Öffentlichkeit unter freiem Himmel, an denen sich Menschen entweder auf engem Raum oder nicht nur vorübergehend aufhalten. Die örtlich zuständigen Behörden sollen die Orte festlegen. Auch in Arbeits- und Betriebsstätten sei ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen - dies soll aber nicht am Platz gelten, sofern ein Abstand von 1,5 Meter zu weiteren Personen sicher eingehalten werden könne.

SPD plädiert für Steuerzuschlag

Strittig ist zudem die Frage, wie die enormen Corona-Lasten für das Gesundheitssystem finanziert werden sollen. Während die SPD für einen Steuerzuschlag plädiert, fehlt der im Konzeptpapier der Union. Wie beim Gesundheitssoli werden im Kampf gegen die Pandemie-Folgen die grundsätzlich unterschiedlichen Politik-Ansätze von Union und SPD auch in anderen Fragen sichtbar. So schlägt die Union die Lockerung von Lenk- und Ruhezeiten für Lkw-Fahrer und für Anlieferzeiten zu Geschäften vor. Debatten dürfte es auch über die Corona-Warn-App geben. Die Unionsländer fordern, es müsse geprüft werden, „ob Lockerung im Datenschutz möglich sind“, um das Leistungsspektrum der App zu erweitern. Die SPD verzichtet auf das Stichwort Datenschutz, weist aber darauf hin, die App müsse „um ein Kontakttagebuch und kurzfristig um eine automatische Clustererkennung“ erweitert werden. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hatte zuletzt eine Einschränkung des Datenschutzes bei der App noch ausgeschlossen.

Die Verlängerung des Teil-Lockdowns wird vor allem Gastronomen, Kulturschaffende und Betreiber von Freizeiteinrichtungen hart treffen. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband fordert, das Hilfsprogramm aus dem November zu gleichen Konditionen zu verlängern, wenn die Entscheidung kommt wie erwartet. Auf acht Milliarden Euro schätzt der Dehoga den Umsatzausfall für Dezember.

Der Einzelhandel fürchtet um sein Silvestergeschäft. Falls die SPD-geführten Länder sich mit der Idee durchsetzen, das Feuerwerk zum Jahreswechsel zu verbieten, stehen etwa 122 Millionen Euro Umsatz mit Böllern und Raketen auf dem Spiel. „Feuerwerk aus dem Einzelhandel ist auf Sicherheit geprüft“, sagte Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). Von einer Mehrbelastung der Krankenhäuser könne bei fachgerechtem Gebrauch zertifizierter Feuerwerkskörper nicht ausgegangen werden. „Ein Verbot könnte am Ende dazu führen, dass die Verbraucher zu illegalen Feuerwerkskörpern auf dem Schwarzmarkt greifen, was häufiger zu Unfällen führt“, warnt Genth.

Der Handel fürchtet außerdem, dass durch die Schließung der Restaurants weniger Laufkundschaft in die Innenstädte kommen könnte. Bereits im November habe man „starke Umsatzrückgänge verzeichnet“, sagte Eckhard Schwarzer, Präsident des Mittelstandsverbundes, der 230.000 Unternehmen aus Handel und kooperierenden Branchen vertritt. Die bisherigen Hilfsangebote der Bundesregierung berücksichtigten Betriebe in Teilschließung, etwa Möbelhäuser mit Restaurantbetrieb oder Parfümerien mit angeschlossenem Kosmetik-Studio nicht ausreichend, kritisiert Schwarzer. Er fordert „funktionierende und effektive Hilfen für den Mittelstand“, unter anderem eine unbürokratische Akuthilfe, die Anerkennung eines fiktiven Unternehmerlohnes von mindestens 1180 Euro monatlich, Berücksichtigung betrieblicher Investitionen bei den Hilfszahlungen sowie steuerliche Anreize.