Vom Sonderweg aufs Abstellgleis?Schweden hat Angst vor der Isolation
- Die Regierung in Stockholm hat Angst um ihren guten Ruf.
- Ausländische Diplomaten in Schweden werden vom Außenministerium dazu angehalten, der Kritik in ihren Heimatländern zum lockeren Sonderweg Schwedens in der Corona-Krise entgegenzutreten.
- Schweden befürchten Benachteiligungen bei EU-Grenzöffnungen.
Stockholm – Geöffnete Schulen, gut gefüllte Bars, Einkäufer in den Innenstädten: In der Corona-Krise haben die Schweden ein einzigartiges Experiment gestartet. Anders als fast alle anderen Länder hat die rot-grüne Regierung des 10-Millionen-Volkes auf harte Einschränkungen verzichtet. Während die eigene Bevölkerung die laxe Politik mehrheitlich befürwortet, blickt das Ausland angesichts hoher Todesraten zunehmend skeptisch auf das skandinavische Land.
Um das zu ändern, will die Regierung nun offenbar die Diplomaten aus aller Welt einspannen. Die Botschafter in Schweden sollen in ihren Heimatländern die Botschaft vom schwedischen Sonderweg relativieren.
„Als Botschafter in Schweden habt ihr eine wichtige Rolle darin, eure Hauptstädte über die Situation hier zu informieren“, zitiert die Tageszeitung „Aftonbladet“ aus einer Rede von Außenministerin Ann Linde an die in Stockholm stationierten ausländischen Diplomaten. In Wahrheit unterscheide sich der schwedische Weg kaum von dem anderer Länder. „Schweden teilt die gleichen Ziele wie alle anderen Länder. Wir arbeiten mit den gleichen Herausforderungen und benutzen ähnliche Werkzeuge wie die meisten anderen Länder“, so die Außenministerin in der Rede, laut „Aftonbladet“. Die Wörter „gleichen“ und „ähnlichen“ seien in der Rede dick gedruckt.
Corona-Krise: Höhere Sterberate in Schweden
Auch die Sozialministerin Lena Hallengren redete kürzlich dem ausländischen Diplomatenkorps ins Gewissen. In Schweden habe man entgegen der Behauptungen im Ausland nicht einfach so weitergemacht wie bisher. Auch sei ein zentrales Ziel nicht die Herdenimmunität durch relativ ungehemmte Ansteckung vieler gewesen, unterstreicht die Ministerin, laut „Aftonbladet“. Sie betont, dass Schwedens Krankensystem stets ohne Überlastung funktioniert hat. „Es hat die ganze Zeit zwischen 20 und 30 Prozent freie Betten in den Intensivstationen gegeben“, sagt sie.
Schweden verzeichnet mittlerweile eine wesentlich höhere Sterberate als viele seiner Nachbarländer. Bislang wurden in Schweden fast 42.000 Infektionen mit dem Coronavirus registriert, mehr als 4500 Menschen starben. Dennoch gilt das Land bei deutschen Kritikern der Corona-Beschränkungen als leuchtendes Gegenbeispiel. Die ergriffenen Maßnahmen sind in Schweden deutlich gemäßigter als anderswo: Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern sind verboten, nur Gymnasien und Unis geschlossen.
Die Regierung und die Behörden appellieren ansonsten hauptsächlich an die Vernunft und den gesunden Menschenverstand. Sie bitten sie, Abstand zu halten und bei Symptomen zu Hause zu bleiben.
Schwedens Sonderweg: Die Opposition schweigt
In Schweden selbst ist es weiterhin relativ ruhig, die rot-grüne Regierung hat viel Vertrauen im Volke, auch die Opposition verhält sich relativ ruhig, auch sie stützte von Anfang an den Sonderweg. Sie setzte aber durch, dass Schwedens Corona-Strategie von einer Kommission geprüft wird. Ex-Staatsepidemiologin Annika Linde, die den Sonderweg zunächst gestützt hatte, kritisierte zudem, man hätte zumindest anfänglich einen Lockdown machen müssen, um Zeit zu haben, notwendige Vorkehrungen für die besonders gefährdeten Risikogruppen zu treffen.
Ihr Nachfolger, Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell, entgegnet, dass ein genereller Lockdown die Sterbezahlen nicht vermindert hätte. So gebe es Lockdown-Länder, in denen die Todeszahlen höher waren als in Schweden. Allerdings hat auch Tegnell mittlerweile eingeräumt, dass man mit dem jetzigen Wissen in einer vergleichbaren neuen Situation vielleicht eher einen Mittelweg aus dem harten Lockdown anderer Länder und der lockeren Empfehlungspolitik der Schweden gegangen wäre. Am Sonderweg hält er aber weiter fest.
Die Schweden machen sich Sorgen um ihren Sommer-Urlaub
Unterdessen beunruhigt die Schweden derzeit vor allem, dass sie eventuell in diesem Sommer wegen ihres Sonderwegs nicht in allen europäischen Ländern als Touristen willkommen sein könnten – auch das könnte ein Grund für die Diplomaten-Bearbeitung gewesen sein. Dänemark öffnet seine Grenzen ab 15. Juni für die wirtschaftlich wichtigen Deutschen und auch Norweger. Für die Schweden bleiben sie zunächst geschlossen.
Auch Zypern hat norwegische und dänische Touristen erlaubt für diesen Sommer, nicht aber schwedische. Auch bei Einreisen gibt es Probleme. So hat Niedersachsen am Sonntag bekanntgegeben, dass Menschen, die aus Schweden zurück nach Niedersachsen reisen, sich eine 14-tägige Quarantäne begeben müssen. Laut NDR will auch Mecklenburg-Vorpommern diese Regelung einführen.
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Die Beschlüsse wurden mit den unterschiedlichen Phasen in der Coronabekämpfung begründet. In Schweden seien die Todeszahlen und vermutlich die Ansteckungszahlen viel höher, wurde argumentiert.
Tegnell entgegnete, dass gerade in Schweden die Herdenimmunität bereits so weit sei, dass schwedische Touristen vermutlich sicherer seien, weil sie Corona schon hatten und deshalb immun sind. Wie es tatsächlich um die Herdenimmunität in Schweden steht, ist bislang allerdings höchst umstritten. Neuere Studien gehen davon aus, dass im Ballungszentrum Stockholm etwa 10 Prozent der Bevölkerung Antikörper gebildet haben könnte. (rnd)