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Die ersten Leidtragenden der Krise„An Urlaub denke ich schon lange nicht mehr”

Lesezeit 7 Minuten
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Maja Imlau ist 62 Jahre alt. Sie ist Wachtdienstmitarbeiterin. Bruttoverdienst: 2200 Euro.

Hannover – Sie sind Wachleute, Lkw-Fahrer oder Callcenter-Mitarbeiter – und erste Leidtragende der Krise: Niemanden treffen Inflation und Energiepreise so sehr wie Menschen mit geringem Einkommen.

Die Wut der anderen kennt Oliver Stranz gut, sie begegnet ihm jeden Tag, meist gleich morgens nach Schichtbeginn, 8 Uhr. Wie es mit dem Gaspreis weitergeht, wollen die Menschen, die ihn anrufen, von ihm wissen. Wie sollen sie eine Preiserhöhung stemmen? Was soll Oliver Stranz da antworten? Er fragt sich das ja selbst. Aggressiver sei der Ton am Telefon geworden, sagt Stranz, bedrängender. „Man darf das nicht so nah an sich heranlassen“, sagt Stranz. Er meint: die Situation der anderen. Und seine eigene Situation, die meint er natürlich auch.

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Oliver Stranz arbeitet im Callcenter. Bruttoverdienst: 1900 Euro.

Stranz, Bremer, 43 Jahre alt, kurzes, ansatzweise grauer werdendes Haar, arbeitet im Callcenter eines deutschen Energieunternehmens. Das ist, in normalen Zeiten, ein stressiger, mäßig bezahlter, aber immerhin geregelter Job. Nur sind dies gerade keine normalen Zeiten. Deshalb ist Stranz, wie seine Kolleginnen und Kollegen, jetzt je nach Anfrage Berater, Prophet, Therapeut oder Zornableiter in einer Person – und Leidtragender dieser gerade sehr besonderen Situation.

Zu viel für Sozialleistungen, zu wenig für Gelassenheit

Man darf zwar nicht schreiben, für welches Energieunternehmen Stranz arbeitet, aber man darf schreiben, was Stranz verdient: 12 Euro in der Stunde. Etwas mehr als den aktuellen Mindestlohn also. Zu viel, um Sozialleistungen zu bekommen – und deutlich zu wenig, um mit zumindest relativer Gelassenheit auf das zu schauen, was an steigenden Preisen in diesem Winter auf viele zukommt. „Natürlich macht einen das wütend“, sagt Stranz.

Kaum anders formulieren es deutsche Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bei Menschen mit niedrigen Einkommen „schlägt der Gaspreisanstieg besonders zu“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. Die Inflation, die Kosten für Energie, beides trifft im Moment alle Menschen. Aber es trifft nicht alle gleich.

Oliver Stranz arbeitete einst in der Gastronomie. Bis zur Pandemie. Dann suchte sich Stranz was Neues. Wie so viele in dieser Zeit. Fünf Wochen dauerte die Einarbeitung. Dann war er Fachmann für Energieversorger, Netzbetreiber, Ratenzahlung und Lieferabmeldung. Inzwischen bildet er Kollegen weiter. Aber an seinem Verdienst hat das nicht viel geändert. Auf rund 1900 Euro brutto kommt er im Monat, netto bleiben ihm zwischen 1400 und 1500 Euro. Seine Wohnung hat er danach ausgesucht, dass sie ihm das Jobcenter nicht wegnimmt, sollte er mal arbeitslos werden: 30 Quadratmeter für 400 Euro Miete warm, dazu 50 Euro für Strom.

Wo lässt sich sparen?

Was ihn die Erhöhungen kosten werden, weiß er noch nicht. 60 bis 120 Euro mehr im Monat, so hat er es sich ausgerechnet. Dazu die Monatskarte für die Bahn, die ihn jetzt 67,80 Euro kostet, seit das 9-Euro-Ticket ausgelaufen ist. Am Ende wird Oliver Stranz nicht viel mehr im Monat bleiben, als ein Hartz-IV-Empfänger bekommt. Nur dass niemand seine Heizkosten übernimmt. Wo er sparen wird? Er werde wohl noch weniger in Kneipen gehen, essen gehen, sich mit Freunden treffen.

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Dabei profitieren ja auch Geringverdiener wie Oliver Stranz von den Entlastungen im Wert von insgesamt 95 Milliarden Euro, die die Bundesregierung bisher beschlossen hat. Wer als Single 23 285 Euro im Jahr verdient, also etwa so viel wie er, und 869 Euro mehr für Gas und Strom bezahlen muss, der erhält durch die Entlastungspakete 598 Euro zurück – so hat es das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet. Es würden dann also unter dem Strich lediglich rund 270 Euro an Mehrkosten bleiben. Allerdings bezieht sich diese Rechnung auf eine Verdoppelung des Gaspreises. Bei einer Verdreifachung bleiben Geringverdiener schon mit Nettomehrkosten von 737 Euro im Jahr allein.

Alltag: Zwölf-Stunden-Schichten

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Maja Imlau ist 62 Jahre alt. Sie ist Wachtdienstmitarbeiterin. Bruttoverdienst: 2200 Euro.

Maja Imlau hat die beiden Schreiben der Stadtwerke abgeheftet, sie kamen im Dreimonatsabstand. „… teilen wir Ihnen mit, dass wir den Gaspreis pro Kilowattstunde zum 1. Juli von 7,66 auf 9 Cent erhöhen.“ „… teilen wir Ihnen mit, dass wir den Gaspreis zum 1. Oktober auf 11,88 Cent erhöhen.“ Sie klappt den Ordner zu. „Manchmal“, sagt sie, „möchte ich gar nicht wissen, was da auf mich zukommt.“ Imlau ist 62 Jahre alt, sie trägt eine leuchtend gelbe Jacke, Dienstkleidung. Sie war Landwirtin, Gärtnerin, arbeitslos, seit neun Jahren arbeitet sie bei einem Wachdienst im Hafen. Ihr Alltag sind Zwölf-Stunden-Schichten. Wie sie sich fühlt? „Müde“, sagt sie in ihrer Mietwohnung in Bremerhaven.

Oft kommt Imlau auf 190 bis 200 Stunden im Monat, dadurch kommt sie selbst bei 11,15 Euro pro Stunde mit 5 Prozent Nachtzuschlag auf 2200 Euro brutto. Vor zehn Jahren starb ihr Mann, sie lebt zusammen mit einem ihrer Söhne, Wachmann auch er, so können sie sich die Kosten teilen. Für Gas und Strom zahlen sie nun freiwillig 301 statt 201 Euro.

„An Urlaub denke ich schon lange nicht mehr”

Was das bedeutet? Imlau zuckt mit den Schultern. Sie könnte mehr selbst kochen, klar. „Aber wer kann sich denn nach zwölf Stunden noch lange an den Herd stellen?“ Also legt sie sich ein tiefgefrorenes Cordon bleu vom Discounter in die Pfanne. Kann sie Urlaub machen, eine Reise? „Daran denke ich ja schon lange nicht mehr.“

Inzwischen plädieren auch Wirtschaftswissenschaftler für weitere Entlastungen. 1500 Euro, so haben Forscherinnen und Forscher von DIW und Humboldt-Universität errechnet, wird der Gaspreisanstieg deutsche Haushalte im Schnitt kosten. Deshalb plädieren sie an dieser Stelle für weitere Entlastungen. Nur: Welche Form soll diese haben?

Eine Gaspreisgarantie wäre teuer: 17,5 Milliarden Euro. Eine Pauschalzahlung an alle Haushalte wäre noch teurer: 20 Milliarden Euro. Eine Zahlung nur an ärmere wäre billiger: rund 4 Milliarden. Nur wäre auch sie möglicherweise ungerecht – weil sie Menschen in kleineren, gut gedämmten Wohnungen bevorzugt gegenüber jenen in größeren, schlecht isolierten.

Aber vielleicht kommt es darauf aus Sicht vieler Betroffener auch nicht an – sondern darauf, dass man die Hilfe spürt. Jedenfalls hat Andreas Kernke genug von jenen Entlastungen, die bei ihm gar nicht ankommen. Da sind zum Beispiel die 3000 Euro, die Arbeitgeber ihren Beschäftigten wohl bald steuerfrei überweisen dürfen. „Aber das wird sicher an mir vorbeigehen“, sagt Kernke ernüchtert. Denn wo sollten Firmen, die selbst in Not sind, das bitte hernehmen?

60 bis 70 Wochenstunden für 2900 euro brutto

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Andreas Kernke, 59 Jahre alt, Lkw-Fahrer. Bruttoverdienst: 2900 Euro.

Es ist Montagmorgen, Kernke, 59 Jahre alt, steht neben seinem Lkw. Gleich wird er vom Hof rollen und dann nicht vor Freitagnachmittag wieder zurück sein, quer durch Deutschland geht es. Jedenfalls dann, wenn ihm das Adblue nicht ausgeht, der Dieselzusatz, der, auch eine indirekte Kriegsfolge, ebenfalls gerade besonders teuer und knapp ist und ohne den der Lkw nicht fahren darf. 2900 Euro wird er dafür am Ende des Monats bekommen, brutto, was nicht wenig ist, aber auch nicht üppig, wenn man bedenkt, dass Kernkes Arbeitswoche gern mal 60 bis 70 Stunden lang sein kann. „Viele“, sagt Kernke, „wollen heute nicht wahrhaben, dass wir im Grunde in einem Niedriglohnsektor arbeiten.“

Wie sehr ihn die Energiepreise treffen, weiß Kernke noch nicht. „Ich habe Angst davor, von der Hand in den Mund zu leben“, sagt Kernke. Deshalb spart er. Im Internet hat er sich einen Teelichtofen bestellt. Vor dem Duschen legt er seine Brille in den Ultraschallreiniger. Drei Minuten braucht der, und Kernkes Ehrgeiz ist es, vor dem Reiniger fertig zu sein. Kernke muss los, auf die Straße, aber ihn treibt auch die Angst, dass die Folgen noch gar nicht abzusehen sind. „Wenn ich 500 bis 600 Euro mehr im Monat bezahlen muss, dann kann ich nur sagen: So möchte ich nicht leben.“

Andreas Kernke ist SPD-Mitglied. Anfangs, zu Beginn des Kriegs, war er mit der Politik sehr einverstanden. „Als mein Kanzler seine Zeitenwende-Rede hielt, hatte ich Tränen in den Augen.“ Aber die sind inzwischen getrocknet. Er sei unzufrieden mit der Politik, sagt er jetzt – und macht sich Sorgen darum, dass etwas kippen könnte. „Man weiß nicht: Wie geht es weiter?“, sagt er, während er einsteigt, das sei es, was ihn beunruhigt, als würde der Weltenlauf gerade sein Bedürfnis nach Sicherheit missachten.

Und während er vom Hof rollt, ploppen im Netz die neuen Nachrichten auf. „Durch Adbluemangel“, lautet eine, „droht neue Krise.“