AboAbonnieren

Die Spaltung am NeckarBaden-Württemberg diskutiert über Atomkraftwerk in Krisenzeiten

Lesezeit 8 Minuten
5FAA9A0038E7683B

Das Kernkraftwerk Neckarwestheim.

  1. Das Atomkraftwerk in Neckarwestheim sollte eigentlich zum Jahreswechsel abgeschaltet werden.
  2. Daraus wird jetzt nichts.
  3. Aktivisten sind entsetzt und warnen vor „Rissen im maroden Werk“.
  4. Die Bevölkerung bleibt gelassen.
  5. Ein Besuch am Meiler.

Neckarwestheim – Die kleine Gemeinde Neckarwestheim, in der gerade einmal 4000 Menschen leben, liegt idyllisch in der Natur Baden-Württembergs, etwa acht Kilometer von Heilbronn und wenige Meter vom Neckar entfernt. Rundherum erstrecken sich Wein- und Apfelplantagen. Der Ortskern passt sich in seiner Beschaulichkeit der Landschaft an. Auf den Straßen ist nur wenig los an diesem Vormittag, der Marktplatz nahezu menschenleer – nur beim Metzger bildet sich eine längere Schlange.Eines passt so gar nicht in dieses Umfeld: Es ist der weiße Dampf, der direkt hinter dem Dorf, gut sichtbar vom Ortskern, aus einem riesigen Kühlturm in die Luft emporsteigt.

„Grauenhaft.“ So beschreibt Franz Wagner, Sprecher des Bundes der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN), das große Industrieareal, das in einer Art Senke unterhalb des Ortes liegt. „Manch einer bezeichnet das hier als Industrie romantik“, sagt er. „Ich bezeichne es als Schrott.“ Schrott, das ist in seinen Augen das Kernkraftwerk Neckarwestheim.

Aktivist: Desaströser Zustand“

In Betrieb genommen wurde es am 1. Dezember 1976, vom Netz gehen sollte es eigentlich Ende dieses Jahres. Eigentlich. Denn das Werk gehört zu zwei von drei verbliebenen Atomkraftwerken Deutschlands, die nun doch noch bis in das Frühjahr hinein weiterlaufen sollen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte Ende September die mögliche Verlängerung in Aussicht gestellt. Die FDP fordert sogar eine Laufzeitverlängerung aller drei AKW – bislang hat sich die Ampelkoalition noch nicht geeinigt.

Franz Wagner kann angesichts dieser Pläne nur mit dem Kopf schütteln. „Das ist ein massives Sicherheitsrisiko.“ Er steht vor den Toren der Anlage, die mit dickem Stacheldraht gesichert sind. Das Kraftwerk sei inzwischen in einem so desaströsen Zustand, dass ein Weiterbetrieb unverantwortlich sei – und auch ein Supergau sei laut Wagner nicht auszuschließen.

Geologen warnen vor Hohlräumen

Wagner kämpft bereits seit Jahrzehnten gegen das Atomkraftwerk an. Die Gründe dafür sind vielfältig: Allein schon die Baukonstruktion der EnBW-Anlage treibt Aktivistinnen und Aktivisten seit vielen Jahren um. Das Kraftwerk steht auf einem ehemaligen Steinbruch – laut Wagner, der selbst im benachbarten Heilbronn wohnt, der denkbar ungünstigste Ort, um überhaupt ein Kernkraftwerk zu errichten.

Im Untergrund befinden sich poröse Schichten von Gips und Kalk. Geologen warnen bereits seit Jahrzehnten, dass sich unter dem AKW Hohlräume bilden. Der Kühlturm des Kraftwerks war hier schon vor Jahren um mehrere Zentimeter abgesackt und mit Beton wieder aufgerichtet worden. Für die Reaktoren, so die offizielle Darstellung, bestehe dieses Problem nicht. Wagner ist skeptisch: „Dafür fehlen schlichtweg die Beweise“, meint er.

Korrosionsschäden an Rohren

Seit einigen Jahren bringt aber noch ein ganz anderes Problem das AKW immer wieder in die Schlagzeilen. Bereits 2018 waren bei einer Überprüfung Korrosionsschäden an Rohren gefunden worden. Von offizieller Seite werden diese als „lineare Wanddickenschwächungen“ bezeichnet, Aktivistinnen und Aktivisten sagen lieber „Risse“ dazu.

Bei einer neuen Überprüfung im Sommer waren diese Schäden erneut an 35 Heizrohren gefunden worden. Sie seien daraufhin stabilisiert und verschlossen worden.

AKW überschreitet Sicherheitschecks

Wagner bezeichnet diese Praktik als „regelwidrig“. Eigentlich müssten die Dampferzeuger komplett ausgetauscht werden, meint der Atomkraftgegner. Da das Kraftwerk aber ohnehin bald stillgelegt werde, „hangele“ man sich nur noch „von Revision zu Revision“, verstopfe hier und da mal ein Rohr.

Das AKW überschreitet nun schon seit mehreren Jahren die eigentlich verpflichtenden Sicherheitschecks. „Ein AKW darf nur betrieben werden, wenn alle zehn Jahre eine periodische Sicherheitsüberprüfung erfolgt“, erklärt Wagner. Eine Ausnahme gelte allerdings: Drei Jahre vor Abschaltung muss eine solche Sicherheitsüberprüfung nicht mehr gemacht werden – die drei noch laufenden Atommeiler in Deutschland wurden zuletzt 2009 umfassend überprüft.

„Wir befinden uns nun schon fast drei Jahre nach der Fälligkeit, das allein ist schon hochproblematisch“, warnt Wagner. Würde nun für den Weiterbetrieb das Atomgesetz geändert, öffne das Tür und Tor für einen längerfristigen Betrieb maroder Kraftwerke. „So werden die eigenen Regeln einfach neu geschustert. Das wäre ein extremer Rückschritt in der Sicherheitskultur.“

Gewöhnung nach 46 Jahren

Zurück in die Mitte von Neckarwestheim. Hier herrscht mit Blick auf das AKW eine entspanntere Stimmung. Brigitte Winzinger überquert mit ihrem Rollator langsam die Hauptstraße. Sie ist vor einem Vierteljahr in ein Seniorenzentrum in den Ort gezogen. „Früher hieß es immer: Bloß nicht nach Neckarwestheim ziehen.“ Inzwischen stehe das Werk aber schon seit 46 Jahren dort – „und es ist nie etwas passiert“. Man habe sich inzwischen daran gewöhnt. Und was sagt sie zur längeren Laufzeit? „Wenn es hilft, uns durch den Winter zu bringen, dann machen die wenigen Monate auch keinen Unterschied mehr.“

Ähnlich sieht es auch Ellen Laitenberger, die in der Nähe des Marktplatzes in einem Modegeschäft arbeitet. Im Übrigen verlasse sie sich auf die „hohen Sicherheitsstandards“, die hierzulande gelten würden. Und Importstrom aus anderen Ländern wäre vermutlich deutlich unsicherer, sagt sie.

Arbeitgeber für viele Menschen aus der Umgebung

Die wohlwollende Einstellung vieler Bürger gegenüber dem Kraftwerk, dem Markenzeichen des Ortes, kommt nicht von ungefähr: Das AKW hat die Gemeinde äußerst wohlhabend gemacht. Neckarwestheim ist eine der reichsten Kommunen im Landkreis Heilbronn. „Das Kraftwerk ist ein bedeutender Arbeitgeber in der Region, auch viele Leute aus dem Ort arbeiten hier“, sagt Bürgermeister Jochen Winkler.

Durch die Gewerbesteuer habe der Ort jährlich zwischen 5 und 10 Millionen Euro eingenommen, zudem sei der Betreiber EnBW viele Jahre lang als Sponsor im Ort in Erscheinung getreten. Das waren die guten Zeiten. Als Block 1 des Kraftwerks 2011 allerdings vom Netz ging und sich EnBW ein Sparprogramm auferlegte, seien nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen gewesen – auch die Unterstützungen, etwa für Vereine im Ort, blieben fortan aus.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Verlängerung des Betriebes um ein paar Monate bringe für die Gemeinde daher auch keine nennenswerten Vorteile. Eigentlich, so Winkler, hatte man sich bereits auf den Rückbau eingestellt. Die Diskussionen über einen Fortbetrieb seien für viele völlig überraschend gewesen.

Trotz Stillegung Wohlstand erhalten: Die Herausforderung

Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kernenergiebetrieb würden nach der Stilllegung in Altersteilzeit gehen. Jüngere beschäftigen sich künftig mit dem Rückbau des Kraftwerks, der voraussichtlich zehn bis 15 Jahre dauern wird. „Dafür wurden sogar neue Arbeitskräfte eingestellt“, sagt Winkler. Die größte Herausforderung sei nun, nach der Stilllegung den eigenen Wohlstand zu erhalten, so der Bürgermeister. Künftig wird ein großes Gewerbesteuerloch im Haushalt klaffen.

Noch herrscht bei den Nachbar des Meilers überwiegend gelassene Stimmung – doch die könnte kippen. Die Risse in den Heizstäben, Winkler nennt sie „Materialschwächungen“, würden in der Bevölkerung durchaus diskutiert. Angesichts einer kurzen Betriebsverlängerung von ein paar Monaten lösten diese keine großen Ängste aus. „Wäre eine deutliche Verlängerung der Laufzeit geplant, wäre das ein ganz anderes Thema.“

Angst vor dem „Rissreaktor“

Eines, das andere schon aktiv angehen. Die Anti-AKW-Organisation Ausgestrahlt macht mobil gegen das aus ihrer Sicht marode Werk. „Würde auch nur eines der rund 16 000 Rohre aufgrund eines solchen Risses bersten, abreißen oder brechen, wäre dies bereits ein nur schwer zu beherrschender Kühlmittelverluststörfall“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Aktivistinnen und Aktivisten zusammen mit dem BBMN.

Protestaktionen geplant

Dieser könne bis zur Kernschmelze im „Rissreaktor“ führen. Besorgt ist auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Baden-Württemberg. Die Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch sagte dem SWR: „Seit 2017 sind im AKW Neckarwestheim 2 über 300 Risse gewachsen. Hier herrscht also schon ein Notfall. Dieses AKW nun als Notreserve vorzuhalten und möglicherweise durch An- und Abschaltungen einer hohen Belastung auszusetzen, ist unverantwortlich und muss gestoppt werden.“

Um auf die Gefahren der Anlage hinzuweisen, planen die Organisationen viele Protestaktionen.

Auch eine Klage gegen den Weiterbetrieb läuft. Einen Eilantrag zur sofortigen Abschaltung hatte der Verwaltungsgerichtshof im Frühjahr abgelehnt, für den 14. Dezember jedoch ist eine Hauptverhandlung angesetzt. Hat die Klage Erfolg, muss das Umweltministerium den weiteren Betrieb des Reaktors unterbinden, so die Aktivistinnen und Aktivisten.

Bürger bleiben unbeeindruckt

Am Neckar jedenfalls zeigen sich die Menschen von den Warnungen der Umweltschützer und Atomkraftgegner relativ unbeeindruckt. Eine ähnliche Stimmung herrscht im benachbarten Kirchheim. „Wir sind hier mit dem Kraftwerk aufgewachsen“, sagt eine Cafébesucherin.

„Nachbarskinder sind damals um die Lastwagen mit den Brennstäben herumgerannt, das war hier ganz normal.“ Das Kraftwerk eine Zeit lang weiterzubetreiben hält auch sie für legitim. „Andernfalls würde der Strom wahrscheinlich von AKW aus Frankreich kommen. Das wäre auch eine ziemliche Doppelmoral.“

Deutlich skeptischer hingegen sind Birgit Herbst und Gerd Oswald, die auf einer Bank die Sonne genießen. „Ich war schon ein bisschen erleichtert, dass es mit der Anlage nun vorbei ist“, sagt Herbst. „Es herrscht keine Panik in den Orten, man lebt ja damit. Aber es ist gut, dass es jetzt zu Ende geht.“ Ganz entschieden sei man allerdings gegen einen weiteren Betrieb über 2023 hinaus, sagt Herbst. Ein solcher war zuletzt von Finanzminister Christian Lindner ins Spiel gebracht worden. „Die Anlage ist dafür nicht mehr geeignet, die Gefahren wären zu groß“, sagt Herbst.

Das sieht auch Aktivist Franz Wagner so. Er befürchtet, dass die Politik, und insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck, noch weiter „einknicken“ wird – und die maroden Kraftwerke noch länger am Netz hält, als ohnehin schon geplant.