Immer größer wird die Verzweiflung im türkischen Erdbebengebiet. Die Rettungskräfte kommen mit den Bergungen nicht hinterher.
VermisstensucheErdbeben in der Türkei: „Gestern haben wir noch Stimmen gehört. Heute nicht mehr“
An einer Kreuzung steht Mehmet Kara am Straßenrand und bittet um eine Mitfahrgelegenheit. Der 43-Jährige will am Mittwoch in die rund zehn Kilometer entfernte südosttürkische Stadt Islahiye. Dort liegt sein älterer Bruder Umut Kara gemeinsam mit drei Kindern unter den Trümmern seines Wohnhauses.
Bei der Ankunft ist es kurz nach neun Uhr, das Erdbeben ist 53 Stunden her. Neben der Ruine, die bis Montagmorgen um 4.17 Uhr ein fünfstöckiges Gebäude gewesen ist, parkt ein Bagger, nach den Verschütteten sucht aber niemand. Dabei weiß Mehmet Kara ganz genau, wo sein Bruder zu finden ist. „Schauen Sie hier“, sagt er, nachdem er auf die Trümmer klettert. Er zeigt in den schmalen Spalt, der zwischen zwei kollabierten Stockwerken noch verblieben ist.
Die obere Etage ist auf Umut Kara gestürzt, der eingeklemmte 45-Jährige liegt auf der Seite und wirkt fast, als würde er schlafen. Sein blauer Pulli ist voller Staub, das Gesicht scheint in der Beuge des ausgestreckten Armes zu ruhen. Am Handgelenk trägt Umut Kara eine schwarze Uhr und ein Goldarmband. Mehmet Kara, der schon am Dienstag an der Ruine war, ruft seinen Bruder. Eine Antwort bekommt er auch am Mittwoch nicht. Zahlreiche Häuser in Islahiye sind eingestürzt, manche stehen aber noch.
Türkei: Baupfusch keine Seltenheit
Mehmet Kara zeigt auf die einst tragenden Säulen der Ruine. „Da sind keine Stahlstangen drin“, sagt er – tatsächlich ist in den zertrümmerten Säulen davon nichts zu sehen. Dass Bauunternehmer aus Kostengründen bei der Sicherheit sparen, ist in der Türkei kein Einzelfall. Pfusch am Bau ist in dem von Erdbeben geplagten Land seit langem immer wieder Grund für zahlreiche Tote, die vermeidbar wären. Mehmet Kara sagt, am Dienstagabend habe sich einer der anderen Verschütteten in dem Gebäude noch per SMS bei einem Angehörigen melden können. Am Mittwochmorgen dringt kein Lebenszeichen mehr aus der Ruine.
Ein junger Mann nähert sich mit einer Helferin und einem Helfer im Schlepptau, er ist sichtlich aufgebracht und fordert, dass sie sofort nach seinen Angehörigen suchen. „Meine Familie ist hier“, ruft er. Der Mann sieht den Reporter auf Deutschland, der sich Notizen macht, rast plötzlich auf ihn zu und schlägt fluchend auf ihn ein. Am Tag zwei nach dem Beben liegen die Nerven im Katastrophengebiet blank. Die Helferin sagt später, die Wut der verzweifelten Menschen richte sich gegen Bauunternehmer, gegen Rettungskräfte, gegen Journalisten und überhaupt gegen alle, die gerade in Reichweite seien. Immer wieder trifft der Ärger auch die Regierung vom Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Kritik am Katastrophenmanagement kann Erdogan derzeit nicht gebrauchen. Im Mai stehen Präsidenten- und Parlamentswahlen an, und Erdogan will an der Macht bleiben. Der Präsident besucht am Mittwoch das Katastrophengebiet. In Kahramanmaras räumt er ein, dass es nach dem Beben zumindest Anlaufschwierigkeiten gab – und Erdogan ist nicht bekannt dafür, Fehler einzugestehen. „Am ersten Tag gab es natürlich einige Probleme“, sagt er. „Aber am zweiten Tag und heute konnte die Situation bewältigt werden.“ Das sehen am Mittwoch nicht alle Betroffenen so.
Ausmaß der Katastrophe gigantisch
An einem Feuer am Straßenrand in Islahiye wärmt sich eine Familie, die sich nicht mehr in ihre beschädigte Wohnung traut. „Die Regierung macht nicht genug“, sagt die Ehefrau. „Uns wird nicht geholfen. Wir haben seit dem Beben nur Wasser bekommen, aber kein Essen.“ Die Nächte hätten sie im Wagen verbracht. „Wir brauchen ein Zelt, wir erfrieren im Auto.“ Die erwachsene Tochter zeigt auf eine Ruine auf einem benachbarten Grundstück und sagt, dort sei ein fünf Jahre altes Kind aus den Trümmern geborgen worden – das nun Vollwaise sei. „Wäre rechtzeitig Hilfe gekommen, hätten die Eltern überleben können.“ Nicht alle teilen die Kritik.
Selahattin Yalcin wartet in der Nähe einer Ruine darauf, dass sein Bruder, seine Mutter und sein Neffe in den Trümmern gefunden werden, seine Schwägerin ist bereits tot geborgen worden. Der Bruder habe nach dem ersten Erdstoß drei seiner Kinder in Sicherheit gebracht, erzählt Yalcin, sei dann aber nochmal hinein, um die anderen Familienmitglieder nachzuholen. Dann habe der zweite Erdstoß das Gebäude zum Einsturz gebracht. Yalcin meint, es stimme zwar, dass die Hilfe spät angelaufen sei. Das Ausmaß der Katastrophe sei aber so gigantisch, dass die Rettungskräfte sie gar nicht hätten bewältigen können. „Sie konnten ja nicht überall sein.“
Rettungstrupp aus nordirakischer Kurdenregion
Die Straße von der Provinzhauptstadt Gaziantep ins rund 90 Kilometer entfernte Islahiye ist beim Erdbeben beschädigt worden. Die Erdstöße haben tiefe Risse im Asphalt hinterlassen, die sich Fahrern oft erst kurz zuvor offenbaren. Am Straßenrand stehen hinter manchen der Fahrbahnschäden Fahrzeuge mit platten Reifen oder gebrochenen Achsen. Auf der Route ist eine Brücke kollabiert, der Verkehr wird über einen Schlammpiste umgeleitet. Am Mittwochmorgen ist hier noch nichts los. Am Mittag reihen sich in Richtung Islahiye Tieflader mit Baggern und Lastwagen mit Hilfsgütern aneinander.
In Richtung Gaziantep versuchen Krankenwagen, durchzukommen. Das Chaos führt dazu, dass der Verkehr zeitweise zum Stillstand kommt. Dennoch treffen immer mehr Rettungsmannschaften mit schwerem Räumgerät in Islahiye ein. Dort brechen neben den kollabierten Gebäuden immer wieder Menschen in Tränen aus. Die Verzweiflung ist mit den Händen zu greifen. In den meisten der Ruinen werden noch Menschen vermutet. Ein Gebäude ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt, die Stockwerke liegen wie gestapelt übereinander.
Andere Gebäude neigen sich gefährlich zur Seite – etwa jenes Haus, aus dem eine Frau ihrer Familie gerade Decken vom Balkon wirft. Ein anderes Gebäude, das schwer beschädigt ist, aber noch steht, lässt hoffen, dass dort das Schlimmste abgewendet werden konnte: In einer Wohnung im dritten Stock, bei der die Außenwand fehlt, ist ein Babybett zu sehen – es steht jetzt zwar direkt am Abgrund, wirkt aber unbeschadet. Die türkischen Helfer in der 67.000-Einwohner-Stadt Islahiye werden seit Dienstagabend unter anderem von einem Rettungstrupp aus der autonomen Kurdenregion im Nordirak unterstützt.
„Gestern haben wir noch Stimmen gehört. Heute nicht mehr“
Dessen Vizechef Ali Saeed sagt, es sei natürlich denkbar, dass nicht alle Opfer beim Beben selbst umgekommen seien. Bei nächtlichen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt seien manche Verschüttete danach womöglich unter den Trümmern erfroren. Ob es überhaupt noch Chancen gebe, Überlebende zu finden? „Vielleicht“, sagt er. „Wir tun, was wir können.“ Der zwölf Jahre alte Hüseyin gehört zu jenen Menschen in Islahiye, für die jede lebensrettende Hilfe zu spät kommt. Das tote Kind ist in seinem Bett gestorben. Der Unterkörper steckt unter den Trümmern in der Ruine fest, der Oberkörper und der Kopf mit den blonden Haaren sind bereits freigeräumt.
Die Angehörigen haben diesen oberen Teil der Leiche mit Hüseyins rosa Bettdecke zugedeckt, die mit gebrochenen Herzen und „I love you“-Aufdrucken verziert ist. Onkel Resat hebt die Decke an, um zu zeigen, dass sie Hüseyin nicht ohne Hilfe befreien können. Der 30-Jährige sagt, die Familie habe die Sorge, dass Hunde und Katzen den freiliegenden Teil der Leiche fressen könnten. Resat sagt, sein Bruder, dessen Ehefrau und vier Kinder seien in dem Gebäude verschüttet worden. „Gestern haben wir hier noch Stimmen gehört. Heute nicht mehr.“
Mit den Händen nach Vermissten gegraben
Unter den Kindern auch ein Baby, dessen Schreie sie am Dienstagabend ebenfalls noch vernommen hätten. Resat und eine Handvoll Angehörige graben auf der Suche nach den Vermissten mit ihren Händen in den Trümmern. Hüseyin haben sie an der Rückseite der Ruine gefunden. Vor der Vorderseite sitzt Resats Mutter, Hüseyins Großmutter. Resat hat es noch nicht übers Herz gebracht, ihr vom Tod des Enkels zu berichten. Die Familie stammt aus dem syrischen Aleppo, von wo sie aus dem Bürgerkrieg geflohen ist.
Resat sagt, immer wieder habe er die Rettungskräfte angerufen. „Aber keiner ist gekommen. Hier ist niemand von der Regierung. Ich bin sehr wütend“ Die Katastrophenschutzbehörde Afad habe ihn aufgefordert, bei der Feuerwehr anzurufen – die wiederum an Afad verwiesen habe. Als er von dem kurdischen Rettungstrupp aus dem Nordirak hört, macht er sich zu deren Lager auf den Weg. Die Helfer dort zeigen Mitgefühl – sagen aber, dass sie ohne Afad-Anweisung nichts machen könnten.
Resat fährt also zum mobilen Koordinierungszentrum von Afad. Von dort aus wird er in ein Büro in einem anderen Gebäude geschickt, in dem zwei Afad-Helfer Adressen aufnehmen, an die Bergungskräfte entsandt werden sollen, sobald sie zur Verfügung stehen. Auf den Schreibtischen liegt ein Wust an Papier, es herrscht Chaos, die Stimmung ist angespannt. Ein aufgebrachter Polizist will dem deutschen Reporter trotz Akkreditierung bei der Regierung zwischendurch den Notizblock wegnehmen.
Resat bittet unterdessen inständig um Hilfe. Die Afad-Vertreter schreiben schließlich die Adresse des Hauses von Resats Bruder auf eine der Listen. Eine Uhrzeit, zu der die Helfer kommen, wollen sie nicht nennen. Ob noch am Mittwoch mit ihnen zu rechnen sei? „Inshallah“, sagt einer von ihnen, so Gott will. Resat berichtet am Abend per Telefon, dass tatsächlich Helfer aufgetaucht seien. Sie hätten Hüseyins Leiche aus den Trümmern befreit. Was mit den anderen verschütteten Angehörigen sei? Resat antwortet, um nach ihnen zu suchen, benötigten die Rettungskräfte einen Kran – und wann der komme, sei ungewiss.