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Im Ausland „eingepackt und in die Türkei gebracht“Wie der türkische Geheimdienst „Staatsfeinde“ entführt

Lesezeit 5 Minuten
Erdogan billigt Entführungen des türkischen Geheimdienstes.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Der türkische Geheimdienst stellt mutmaßlichen „Staatsfeinden“ auch im Ausland nach und verschleppt sie in die Türkei. Staatschef Recep Tayyip Erdogan billigt die Entführungen.

Am Morgen des 6. September 2022 machte sich Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Aber dort kam der 42-Jährige nicht an. Die letzte Spur, die seine Familie von ihm fand, war sein Wagen. Er stand unverschlossen an einem Straßenrand in der Nähe einer Auto­waschstraße. Ein Mitarbeiter berichtete, er habe gesehen, wie mehrere maskierte Männer den Fahrer des Wagens in einen Minibus zerrten und davon­fuhren. Bilder einer Sicherheits­kamera zeigen die Entführung.

Am 12. November war Ugur Demirok plötzlich wieder da. Die staatliche türkische Nachrichten­agentur Anadolu verbreitete ein Polizeifoto. Es zeigt Demirok in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Der Mann ist unrasiert, sein Gesicht wirkt eingefallen. Er macht einen verängstigten Eindruck. Der Geheimdienst MIT habe Demirok „gefangen“, berichtete die regierungsnahe Zeitung „Sabah“. Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terror­organisation.

Mehr als 100 Personen „eingepackt und in die Türkei gebracht“

Kein Einzelfall. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay bestätigte vor zwei Wochen im Parlament in Ankara, dass Agenten des Geheimdienstes MIT „mehr als 100 Personen“ aus dem Ausland in die Türkei zurück­gebracht hätten. Es dürfte sich überwiegend um Anhänger des Exilpredigers Fethullah Gülen handeln. Erdogan macht seinen früheren Verbündeten Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Seine Bewegung ist in der Türkei unter dem Kürzel Fetö bekannt und als Terror­organisation verboten. Gülen, der 1999 ins selbst gewählte Exil in die USA ging und von dort ein weltweites Netz islamischer Bildungs­einrichtungen aufbaute, bestreitet jede Beteiligung an dem Putsch­versuch.

Auch Ugur Demirok, der in Baku in einem Unternehmen für Medizin­technik arbeitete, soll der Gülen-Bewegung angehört haben. „Kein Land und keine Gegend auf der Welt wird ein sicherer Zufluchtsort für Fetö-Mitglieder sein“, hatte Erdogan bereits am 19. September 2016 verkündet, zwei Monate nach dem Putsch­versuch. Aufsehen erregte ein Fall im März 2018. Damals entführten Agenten des MIT in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fünf türkische Lehrer aus dem Kosovo in die Türkei. Sie sollen an einer Schule der Gülen-Bewegung gelehrt haben. Wenige Wochen später verschleppten Agenten drei türkische Lehrer aus dem zentral­afrikanischen Gabun nach Istanbul. Erdogan erklärte dazu: „Wir werden solche Operationen durchführen, wo auch immer sich Fetö-Anhänger aufhalten.“ Der türkische Vizepremier Bekir Bozdag bestätigte damals, der Geheimdienst habe bereits 80 Gülen-Anhänger in 18 Ländern „eingepackt und in die Türkei gebracht“.

Menschrechts­organisationen dokumentieren die Entführungen

Die in Washington D.C. ansässige Menschenrechts­organisation Freedom House hat nach eigenen Recherchen 58 Entführungen aus 17 Ländern verifiziert. Zu den Staaten, aus denen MIT-Agenten angebliche „Terroristen“ verschleppt haben sollen, gehören Malaysia, Pakistan, der Sudan, Albanien, Aserbaidschan und Kenia. Die von türkischen Exilbürger­rechtlern gegründete Organisation Stockholm Center for Freedom (SCF) berichtete in einem Bericht vom Oktober 2021 von 110 Entführungs­fällen.

Im Mai vergangenen Jahres traf es den türkischen Schuldirektor Orhan Inandi. Er leitete in der kirgisischen Hauptstadt Bischeck eine Bildungs­einrichtung, die Gülen zugerechnet wird. Inandi verließ seine Wohnung, um zu einer Verabredung zu fahren. Später fand man sein Auto mit offenen Türen und platten Reifen. Fünf Wochen danach präsentierte Erdogan auf einer Presse­konferenz in Ankara stolz ein Foto, das Inandi in Handschellen zwischen zwei türkischen Flaggen zeigt. „In sorgfältiger und geduldiger Arbeit hat der MIT Orhan Inandi in die Türkei zurückgebracht“, berichtete Erdogan. Schon 2019 hatte die Türkei Inandis Auslieferung beantragt. Kirgisien lehnte das Ersuchen aber ab, weil der Lehrer auch die kirgisische Staats­bürgerschaft besaß.

Nach Angaben des türkischen Innen­ministeriums vom vergangenen Jahr hat die Regierung rund 800 Auslieferungs­ersuchen für mutmaßliche Gülen-Anhänger an 105 Länder gerichtet. Ein prominentes Beispiel ist der Fall Bülent Kenes. Der 53-Jährige lebt seit über sechs Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern im Exil in Stockholm. Erdogan fordert von der schwedischen Regierung die Überstellung des Journalisten, der vor seiner Flucht aus der Türkei Chefredakteur einer Gülen-nahen Tageszeitung war. Die Causa Kenes hat weltweit Aufsehen erregt, weil Erdogan höchst­persönlich kürzlich in einer Presse­konferenz erklärte, die Türkei mache ihre Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens von der Auslieferung des Journalisten abhängig.

Auch sechseinhalb Jahre nach dem Putschversuch: die Säuberungen gehen weiter

Auch sechseinhalb Jahre nach dem Putsch­versuch gehen die „Säuberungen“ gegen Gülen-Anhänger unvermindert weiter. Am Mittwoch nahm die Polizei 17 Personen wegen angeblicher Gülen-Verbindungen fest. Nach Angaben von Innen­minister Süleyman Soylu vom vergangenen Sommer wurden seit dem Putsch­versuch 332.884 Menschen festgenommen. 19.252 sitzen in Strafhaft, nach 24.000 weiteren mutmaßlichen Gülen-Anhängern im In- und Ausland werde gefahndet, sagte Soylu.

Viele Erdogan-Gegner und Bürgerrechtler, die in den vergangenen Jahren ins Ausland geflüchtet sind, leben nun in Angst. Auch wenn sie sich vor Auslieferung sicher glaubten, müssen sie fürchten, in die Türkei verschleppt zu werden, wie Orhan Inandi. Auf einen fairen Prozess ist in der Türkei kein Verlass. Das zeigen Urteile wie der Richterspruch gegen den Kulturförderer Osman Kavala, den ein Istanbuler Gericht im April wegen „versuchten Sturzes der Regierung“ und „politischer Spionage“ zu lebenslanger Insolationshaft ohne Möglichkeit einer Begnadigung verurteilte.

Auch um die Auslieferung des heute 81-jährigen Fethullah Gülen bemüht sich die Regierung seit Jahren, allerdings erfolglos. Im vergangenen Jahr entführte der MIT seinen Neffen Selahaddin aus Kenia. Gülen selbst, der gut bewacht auf einem Landsitz in Saylorsburg in Pennsylvania lebt, dürfte dort vor den türkischen Agenten relativ sicher sein.