Für die Türkei und besonders für ihren Staatschef könnte 2023 ein Schicksalsjahr werden. Recep Tayyip Erdogan kämpft mit allen Mitteln um den Machterhalt, auch mit unlauteren. Er weiß: Er hat sich an vielen Stellen unentbehrlich gemacht.
Kampf um den MachterhaltRecep Tayyip Erdogan – der Mann, der überall mitmischt
So ein Zufall: Murat Duran wollte sich am vergangenen Freitag gerade von der Istanbuler Bosporusbrücke in die Tiefe stürzen, da kam die Autokolonne von Staatschef Recep Tayyip Erdogan vorbei. Der Präsident ließ sofort anhalten, stieg aus seiner gepanzerten Maybach-Limousine und stellte den Mann zur Rede. Erdogan habe Duran von seinem Suizid abbringen können und Weisung gegeben, sich um den Mann zu kümmern, berichtete die regierungsnahe Nachrichtenagentur DHA.Die Bilder, wie der Staatschef auf den bärtigen alten Mann einredet, waren am Wochenende in allen türkischen Medien zu sehen.
Sieben Monate vor wichtigen Wahlen sind solche Storys unbezahlbar.Erdogan hat viele Gesichter. In Geschichten wie der von der Bosporusbrücke tritt er als spontaner Lebensretter und gütiger Landesvater auf. Verfolgte Bürgerrechtler wie der Kulturförderer Osman Kavala sehen den Staatschef dagegen als gnadenlosen Rächer. Den benachbarten Griechen und den Kurden in Nordsyrien begegnet Erdogan als grimmiger Kriegstreiber.
Erdogan will Kurdenmiliz „ausrotten“
Auch die Verbündeten der Türkei erleben Erdogan in unterschiedlichen Rollen. Er unterläuft die Sanktionen des Westens gegen Russland, bringt sich aber zugleich als Friedensstifter zwischen Moskau und Kiew ins Gespräch. In Nordsyrien führt er derweil Krieg gegen die Kurdenmiliz YPG; damit will er vor allem daheim im beginnenden Wahlkampf Punkte machen.
Aber für die Nato werden die Sonderwege des türkischen Machthabers immer problematischer. Denn die YPG, die Erdogan nach eigener Aussage „ausrotten“ will, ist ein wichtiger Verbündeter des Westens im Kampf gegen den „Islamischen Staat“.
2023, so viel steht fest, wird kein Jahr wie jedes andere für die Türkei. Man feiert den 100. Jahrestag der Ausrufung der Republik. Zugleich ist 2023 ein Wahljahr: Spätestens im Juni müssen die Wahlberechtigten über ein neues Parlament abstimmen und zugleich darüber entscheiden, wer das Land für die nächsten fünf Jahre als Präsident führen soll.
Wahlergebnis auch wichtig für Europa und die USA
Seit Gründung der modernen Türkei hat kein Politiker so lange die Geschicke des Landes bestimmt wie Erdogan, anfangs als Premierminister und dann als Staatsoberhaupt. Am 3. November jährte sich zum 20. Mal der erste Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018 regiert Erdogan mit einer Machtfülle wie kein anderer Staatschef der westlichen Welt.
Jetzt geht es um die Frage: Kann er sich bei den Wahlen die Macht für weitere fünf Jahre sichern und so das Vierteljahrhundert voll machen? Davon hängt auch für die Europäer und die USA viel ab.
Rückschritt auf allen Gebieten
Die EU attestiert dem Beitrittskandidaten Türkei in ihrem jüngsten Zustandsbericht vom Oktober Rückschritte auf fast allen Gebieten, vor allem bei der Rechtsstaatlichkeit. „Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf“, stellte der EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi fest. Die Beitrittsverhandlungen stehen still. Im Europarat läuft sogar ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei, weil deren Justiz seit drei Jahren ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Freilassung des Bürgerrechtlers Osman Kavala ignoriert.
Auch in der Nato wachsen die Irritationen über Erdogans Schaukelpolitik. Seine Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin ist in der Allianz schon lange ein Thema. Weil Erdogan 2017 russische Flugabwehrsysteme bestellte, verhängten die USA Sanktionen und stoppten die Lieferung US-amerikanischer F-35-Kampfflugzeuge an Ankara. Jetzt blockiert Erdogan den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands. Das freut keinen mehr als Putin, der Erdogan kürzlich als „starken Führer“ lobte.
Für die Nato ist Erdogans Gekuschel mit dem Kremlchef ein Ärgernis. Aber der Westen lässt dem türkischen Staatschef derzeit viel durchgehen. Denn er gilt dank seines direkten Drahts zu Putin als möglicher Vermittler im Ukraine-Konflikt. Auch wenn es Erdogan bisher nicht gelungen ist, Putin und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an einen Tisch zu bringen, erwies sich die Türkei bei der Aushandlung des Getreideabkommens und dem Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine als effizienter Makler.
Das machte den türkischen Staatschef beim G20-Gipfel in Bali zu einem gefragten Gesprächspartner. Sogar US-Präsident Joe Biden suchte den Kontakt. Erdogan genießt das Rampenlicht. Dabei geht es ihm nicht nur um sein internationales Ansehen. Die Auftritte auf der Weltbühne werfen auch eine innenpolitische Dividende ab. Tatsächlich zeigen die Umfragewerte des Präsidenten und seiner Partei nach langer Talfahrt seit einigen Wochen wieder eine steigende Tendenz.
Ein Volk treibt in die Armut
Aber gewonnen hat er die Wahlen noch lange nicht. Erdogans Nimbus als Vater des türkischen Wirtschaftswunders verblasst. Die Inflation von offiziell fast 86, tatsächlich wohl weit über 100 Prozent treibt immer mehr Menschen in die Armut. Ein Pro-Kopf-Einkommen von 25 000 Dollar hatte Erdogan seinen Landsleuten vor zehn Jahren für das Jubiläumsjahr 2023 versprochen. Damals lag es bei 12 600 Dollar. Vergangenes Jahr waren es nur noch 8106 Dollar. 2023 werde die Türkei zu den zehn größten Volkswirtschaften gehören, fabulierte Erdogan. Tatsächlich ist sie seit 2019 vom 19. auf den 21. Platz zurückgefallen.
Weil mit der Wirtschaft nicht viel Staat zu machen ist, kultiviert Erdogan bewährte Feindbilder und schwelgt in neoosmanischen Großmachtträumen. Den benachbarten Griechen macht er im östlichen Mittelmeer nicht nur Bodenschätze streitig, die nach der UN-Seerechtskonvention zur griechischen Wirtschaftszone gehören. Die Türkei erhebt auch Ansprüche auf griechische Ferieninseln wie Rhodos, Kos und Lesbos.
Unverhohlen droht Erdogan seit Monaten den Nachbarn mit einer Invasion: „Wir können plötzlich eines Nachts kommen.“Während sich die Menschen in Griechenland besorgt fragen, wie ernst das Säbelgerassel zu nehmen ist, fallen in Nordsyrien bereits türkische Bomben und Granaten.
Journalist vermutet Attentäter in Geheimdienstkreisen
Den lange gesuchten Anlass für die Militäroperation lieferte Erdogan der Terroranschlag von Istanbul, bei dem Mitte November auf der belebten Einkaufsstraße Istiklal Caddesi sechs Menschen durch einen Sprengsatz getötet wurden. Schon wenige Stunden nach der Explosion nahm die Polizei die angebliche Attentäterin fest. Sie soll die Bombe im Auftrag der Kurdenmiliz YPG deponiert haben, des syrischen Ablegers der kurdischen Terrororganisation PKK.
Das alles passte fast zu perfekt zusammen. Der in Südafrika lebende türkische Journalist Türkmen Terzi hält es denn auch für möglich, dass die Attentäter in Ankaras Geheimdienstkreisen zu suchen sind.Mit dem der YPG zugeschriebenen Anschlag rückt auch das vor dem Verfassungsgericht anhängige Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Partei HDP wieder in den Fokus. In den Umfragen rangiert die Partei bei rund 10 Prozent.
Sie könnte bei der Parlaments- und Präsidentenwahl das Zünglein an der Waage sein. Eine Zwangsschließung der Partei noch vor den Wahlen würde Erdogan deshalb in die Hände spielen.Je näher der Wahltermin rückt, desto mehr erhöht der Staatschef den Druck auf seine Kritiker. Das bekommt auch Sebnem Korur Fincanci zu spüren.
Präsidentin des Ärzteverbandes in Haft
Die Präsidentin des türkischen Ärzteverbandes hatte in einem Interview gefordert, Vorwürfe zu untersuchen, wonach die türkische Armee im Kampf gegen die PKK im Nordirak chemische Waffen einsetze. Fincanci wurde daraufhin festgenommen und sitzt seit einem Monat in Untersuchungshaft. Der Generalstaatsanwalt von Ankara erhob jetzt Anklage wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ und fordert siebeneinhalb Jahre Haft für die Ärztepräsidentin.
Mehr als 90 Prozent der türkischen Zeitungen und TV-Sender werden von regierungstreuen Unternehmern kontrolliert. Jetzt nimmt Erdogan verstärkt die sozialen Medien ins Fadenkreuz. Mitte Oktober trat ein neues Mediengesetz in Kraft. Es bedroht die Verbreitung von „Falschinformationen“ im Netz mit Haftstrafen von bis zu dreieinhalb Jahren.
Die Opposition spricht von einem „Zensurgesetz“, mit dem die Regierung kritische Posts bei Facebook, Twitter und Co. unterbinden wolle. Der prominente türkische Journalist Bülent Mumay sieht die Türkei vor dem 100-jährigen Gründungsjubiläum der modernen Republik „an der Schwelle zur Diktatur“.
Angeklagt: Der Konkurrent
2023 wird also zu einem Schicksalsjahr für die Türkei. Schon oft wurde Erdogan politisch totgesagt. Aber ein Verbotsverfahren gegen seine islamisch-konservative AKP hat er 2007 ebenso überstanden wie die landesweiten Massenproteste vom Frühjahr 2013, die schweren Korruptionsvorwürfe wenige Monate später und den Putschversuch vom Juli 2016. Seither hat er seine Macht sogar weiter gefestigt. 150 000 als unzuverlässig geltende Beamte, Polizisten und Soldaten wurden entlassen, 95 000 Menschen verhaftet.
Aber noch nie seit Erdogans erstem Sieg vor 20 Jahren war der Ausgang einer Wahl so ungewiss wie jetzt. Eine Vorentscheidung könnte am 14. Dezember fallen. Dann muss sich Ekrem Imamoglu vor einem Gericht in Istanbul verantworten. Der 52-Jährige ist seit 2019 Oberbürgermeister der größten türkischen Stadt und gilt als einer der aussichtsreichsten Herausforderer Erdogans bei der kommenden Präsidentenwahl.
In Umfragen liegt Imamoglu rund 10 Prozentpunkte vor dem amtierenden Präsidenten. Er ist angeklagt wegen einer kritischen Äußerung über die Arbeit der Wahlkommission bei der Kommunalwahl 2019. Der Staatsanwalt fordert wegen „Beleidigung öffentlicher Amtsträger“ mindestens 15 Monate Haft für Imamoglu. Das würde zugleich eine politisches Betätigungsverbot für vier Jahre bedeuten. Erdogan käme das zupass.