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„Es ist wie in einem Krieg“Neue Corona-Variante breitet sich in Indien rasch aus

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Ein Patient atmet mit Hilfe von Sauerstoff in einem Auto. Medizinischer Sauerstoff wird in Indien immer knapper.

Neu-Delhi – Indien hat angesichts einer sich rasch ausbreitenden neuen Corona-Variante ein Rekordhoch an Neuinfektionen vermeldet. Die 349 691 bestätigten neuen Fälle waren mehr, als je zuvor in einem Land an einem Tag gezählt wurden. Laut Gesundheitsministerium starben innerhalb von 24 Stunden 2767 Menschen. Krematorien und Friedhöfe sind überlastet. Der Vorrat an medizinischem Sauerstoff ist bedenklich gesunken und Patienten sterben, während sie darauf warteten, einen Arzt zu sehen.

Experten zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Corona-Toten wesentlich höher sein, da vermutete Fälle nicht mitgezählt werden und es oft Vorerkrankungen zugeschrieben wird, wenn Patientinnen und Patienten am Coronavirus sterben. In der Stadt Bhopal muss auf eine Feuerbestattung stundenlang gewartet werden, wie dort zu hören war. Mitarbeiter des Krematoriums Bhadbhada Vishram Ghat berichteten, dass sie am Samstag mehr als 110 Leichen verbrannt hätten, obwohl die offizielle Zahl der Toten in der Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern zehn war. „Das Virus verschlingt die Menschen unserer Stadt wie ein Monster“, sagte Krematoriums-Mitarbeiter Mamtesh Sharma.

„Es ist als ob wir mitten in einem Krieg seien“

Die beispiellose Zahl neuer Leichen zwang das Krematorium, individuelle Zeremonien und ausgiebige Rituale auszusetzen, von denen Hindus glauben, dass sie die Seele aus dem Kreislauf der Wiedergeburt befreien. „Wir verbrennen die Leichen einfach, wenn sie kommen“, sagte Sharma. „Es ist als ob wir mitten in einem Krieg seien.“ Der leitende Totengräber des größten muslimischen Friedhofs von Neu-Delhi, Mohammad Shameem, sagte: „Ich fürchte, dass uns sehr bald der Platz ausgeht.“

Vor überfüllten Krankenhäusern starben manche Menschen, während sie auf der Straße darauf warteten, einen Arzt oder eine Ärztin zu sehen. Beschäftigte des Gesundheitswesens versuchen, Intensivstationen zu vergrößern und die schwindenden Sauerstoff-Vorräte aufzufüllen. Krankenhäuser kämpfen ebenso wie Patientinnen und Patienten darum, knappe Medizinprodukte aufzutreiben, die oft zu überhöhten Preisen verkauft werden.

Widersprüche um Sauerstoff

Die tatsächliche Lage steht in scharfem Kontrast zur Aussage des stellvertretenden Oberstaatsanwalts Tushar Mehta, der am Samstag vor dem Obersten Gericht behauptete, niemand im Land habe keinen Sauerstoff bekommen. Noch im Januar hatte Ministerpräsident Narendra Modi das Virus für besiegt erklärt. Die Bevölkerung sei dadurch verleitet worden, auf Maßnahmen zur Verringerung der Ansteckungsgefahr zu verzichten, sagte Krutika Kuppalli, Assistenzprofessorin für Medizin an der Abteilung für Infektionskrankheiten der Medical University of South Carolina in den USA. Sie hätten aber besser weiter Abstand halten sollen, Masken tragen und große Menschenmengen vermeiden sollen. Modi wird dafür kritisiert, hinduistische Festivals und große Wahlkampfveranstaltungen zugelassen zu haben, die Experten zufolge zur Ausbreitung des Virus beitrugen. Die Regierung hat die Industrie gebeten, die Produktion von Sauerstoff und knappen lebensrettenden Medikamenten auszuweiten.

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Modis hinduistisch-nationalistische Regierung versucht, kritische Stimmen zu unterdrücken. Twitter befolgte am Samstag eine Regierungsanweisung, mehr als 50 Tweets für Inderinnen und Inder unsichtbar zu machen, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie zu kritisieren schienen. Sie stammten unter anderem von Funktionären aus der Opposition, Journalisten und gewöhnlichen Indern. Twitter teilte mit, dies sei in Reaktion auf eine staatliche Anordnung erfolgt.