Ethikrat zu CoronaStaat darf nicht über Leben und Tod entscheiden
Berlin – Was passiert, wenn das Gesundheitswesen an seine Grenze kommt und Ärzte kaum zu ertragende Entscheidungen treffen müssen, kann bereits in Italien, in Spanien oder in den USA beobachtet werden. Hierzulande hoffen Politiker und Fachleute noch darauf, dass diese Situation in Deutschland nie eintreten wird.
Gleichwohl haben medizinische Fachgesellschaften bereits erste Handreichungen erarbeitet, was Ärzte tun sollen, wenn die Behandlungskapazitäten nicht mehr ausreichen. Wer wird versorgt, wen lässt man sterben? Nun hat sich auch der Deutsche Ethikrat zu dieser Frage geäußert.
“Staat darf menschliches Leben nicht bewerten”
“Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise” hat der Ethikrat sein am Freitag veröffentlichtes Papier genannt. Die Wissenschaftler klären darin zunächst Grundsätzliches. Danach kann und darf es nach dem Grundgesetz keinerlei staatliche Vorgabe geben, wie sich Ärzte in Grenzsituation verhalten sollen. Denn: “Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist.”
Selbst in Ausnahmezeiten eines flächendeckenden und katastrophalen Notstands habe der Staat nicht nur die Pflicht, möglichst viele Menschenleben zu retten. Er müsse vor allem auch die “Grundlagen der Rechtsordnung garantieren”.
“Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz.”
Das heißt für den Ethikrat: “Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig.” Oder kürzer ausgedrückt: “Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz.”
Für die Wissenschaftler folgt daraus, dass grundsätzlich jede Differenzierung etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt sei. Auch eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen “Wertigkeit” oder einer prognostizierten Lebensdauer müsse seitens des Staates unterbleiben.
Wonach sollen sich Ärzte dann richten?
Aber was tun, wenn das Grundgesetz eigentlich nur regelt, was nicht geht? Wonach sollen sich Ärzte dann richten? Der Ethikrat betont, dass es zwar dem Staat nicht erlaubt sei, den Ärzten ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben. Es sei aber durchaus akzeptabel, dass sich die Mediziner selbst Regeln gäben, die “inhaltlich über das hinausgehen, was staatlicherseits zulässig ist”.
Es gelte der Grundsatz, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein könneDie Ethiker haben zwei Konstellationen herausgearbeitet, für die es zumindest Orientierungshilfen geben müsste: Im ersten Fall kommen mehr Patienten in eine Klinik, als es Beatmungsplätze gibt. Es muss also eine Auswahl unter den Neuankömmlingen getroffen werden. Diese Konstellation nennen die Wissenschaftler “normativ weniger problematisch”.
Es gelte der Grundsatz, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein könne
Denn: “Patienten, denen danach die Behandlung vorenthalten wird, werden von den medizinischen Entscheidern nicht etwa durch Unterlassen ‘getötet’, sondern aus Gründen einer tragischen Unmöglichkeit vor dem krankheitsbedingten Sterben nicht gerettet.”
Es gelte der Grundsatz, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein könne. Gleichwohl betonen die Ethiker, dass unfaire Einflüsse bei der Entscheidung über die Auswahl der Patienten nach aller Möglichkeit ausgeschlossen werden sollten, etwa solche im Hinblick auf sozialen Status, Herkunft, Alter oder Behinderung.
Zweite Konstellation nennen die Ethiker wesentlich problematischer
Die zweite Konstellation nennen die Ethiker wesentlich problematischer: Es muss in diesem Fall entschieden werden, die lebenserhaltende Behandlung eines Patienten zu beenden, um mit dem dafür erforderlichen medizinischen Gerät das Leben eines anderen zu retten. “Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten nicht”, stellen die Wissenschaftler nüchtern fest.
Aber: “Wer in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transparenten – etwa von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten – Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen (straf-)rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen.” Vereinfacht ausgedrückt: Er bleibt straffrei.
Erfolgsaussicht vor Dringlichkeit
Den Kriterienkatalog gibt es bereits: In ihrer Handreichung haben sieben medizinische Fachgesellschaften Folgendes festgelegt: Maßstab für die Behandlungsreihenfolge von Patienten müsse immer die Erfolgsaussicht sein – nicht die Dringlichkeit, die zum Beispiel bei der Wartelistenentscheidung für eine Organspende höher gewichtet ist. Wie der Ethikrat betonen auch die Fachgesellschaften, dass alle Entscheidungen unabhängig von Alter oder sozialen Kriterien getroffen werden müssen.
Aus dem Kriterium der Erfolgsaussicht ergibt sich für die Mediziner, dass eine Intensivtherapie nicht angezeigt ist, “wenn der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat, die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre”.
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Und in Übereinstimmung mit den vom Ethikrat postulierten Grundsätzen schreiben die Mediziner in ihrem Papier, die Priorisierungen habe nicht die Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten. Es gehe allein darum, mit begrenzten Ressourcen möglichst vielen Patienten eine “nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen” zu ermöglichen.