AboAbonnieren

„Maybrit Illner“Lauterbach: „Normalität kehrt frühestens in anderthalb Jahren ein“

Lesezeit 7 Minuten

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach

Berlin – Abgerechnet wird erst zum Schluss. Wenn sich die erste Welle der Corona-Pandemie gelegt hat. Wenn die Suche nach einem Impfstoff erfolgreich beendet ist. Wenn das öffentliche Leben wieder an Dynamik gewinnt und die Wirtschaft hochgefahren wird - entsprechende Forderungen sind in dieser Woche schon angeklungen. Wann es soweit ist, steht allerdings in den Sternen.

Auch die Politik wird sich im Laufe der kommenden Monate einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Krisenmanagement nicht entziehen können. Doch schon zum jetzigen Zeitpunkt kommen immer wieder einige berechtigte Fragen auf. Manche zielen auf spezielle Aspekte der Krise ab, manche sind eher pauschal gehalten.

Zum Beispiel: „Kampf gegen Corona - genug Geld, genug Kraft, genug Zeit?” Unter diesem Titel stand am Donnerstagabend der TV-Talk von Maybrit Illner.

Die Gäste

Karl Lauterbach: Der SPD-Gesundheitsexperte erläutert mit Blick auf die Politik: „Der Ball ist zum Teil wieder in unserem Feld. Man muss sich eingestehen: Wir gewinnen Zeit, aber wir lösen kein Problem.”

Alexander Graf Lambsdorff: Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende und frühere Vize-Präsident des Europäischen Parlamentes sagt über seine Corona-Infektion: „Man erschrickt bei der Diagnose. Bei mir kamen Grippesymptome, aber das ging relativ schnell weg. Ich muss sagen, ich habe großes Glück gehabt.“

Yvonne Falckner: Die Krankenschwester und Mitinitiatorin einer Petition der Pflegefachkräfte an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagt über ihre Berufsgruppe: „Vor vier Wochen waren wir noch empathisch, jetzt sind wir systemrelevant. Aber wir waren auch vor vier Wochen schon systemrelevant.”

Andrew Ullmann: Der FDP-Gesundheitspolitiker ist Mitglied im Bundestag, Universitätsprofessor für Infektiologie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und Facharzt für Innere Medizin. Er betont: „Die Maßnahmen, die ergriffen worden sind, sind genau die richtigen. Wir müssen sehen, dass die Welle abgeflacht wird.”

Achim Theiler: Der Geschäftsführer eines deutschen Herstellers und Großhändlers für Hygieneartikel, Mundschutz und Atemschutzmasken sagt: „Im Februar war schon klar, was die Krankheit ein Problem ist.”

Sandra Ciesek: Die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt erläutert: „Bis die Anzahl der Neuinfektionen abnimmt, wird es noch einige Wochen dauern.”

Erstes Thema: Die Rückkehr zum Alltag

FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff wartete zu Beginn mit einer guten Nachricht auf. Zum ersten Mal sei er nach seiner Corona-Infektion am Donnerstag - wenige Stunden vor der Sendung - wieder negativ auf das Virus getestet worden.

Dann kam er rasch zum eigentlichen Thema: Wann eine Rückkehr zum Alltagsgeschäft möglich sei? Graf Lambsdorff mahnte zu Besonnenheit und kluger Abwägung. „Irgendwann wir es wieder einen Silberstreif am Horizont geben”, sagte er. „Diese Diskussion wird geführt, aber das letzte Wort haben die Ärzte.” Es sei von Grund auf falsch, „wie Donald Trump zu sagen, an Ostern sind die Kirchen wieder voll”.

Parteikollege Andrew Ullmann ergänzte: „Man muss die Prioritäten sehen, dass Gesundheit im Vordergrund steht.” Zwar sei die Zunahme der Infektionszahlen weiterhin stark. “Trotzdem haben wir Pandemiepläne, und deswegen ist es legitim, sich jetzt eine Exit-Strategie zu überlegen.”

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Krankenpflegerin Yvonne Falckner schlug deutlichere Worte an, und die gingen nicht unerwartet in die komplett gegensätzliche Richtung: „Die Seele spielt in kritischen Momenten immer eine große Rolle. Aber ich glaube, dass uns im Moment klar sein muss, dass das Gesundheitssystem gestärkt werden muss - und andere Systeme geschützt.” Darauf müsse zunächst der Fokus liegen.

Lauterbachs Meinung: Drei Strategien für die Zukunft

SPD-Politiker Karl Lauterbach dachte die Frage nach der Exit-Strategie vom Ergebnis aus. Es gebe drei, sagte er. Erste Strategie: Man schützt lediglich die Risikogruppen. Zweite: Man lässt das Virus sich verbreiten, „aber nie so schnell, dass Kapazitäten in intensivmedizinischen Abteilungen überlastet werden”. Oder Drei: Man versucht, so wenige Infektionen wie möglich zuzulassen, bis ein Impfstoff gefunden ist.

„Die letzte Strategie finde ich die einzig richtige”, betonte Lauterbach. Die erste Variante sei “extrem gefährlich”. Wenn nämlich alle gefährdeten Personen aus der Isolation kämen und auf infizierte oder bereits genesene Personen träfen, könnte es passieren, dass alle “gleichzeitig krank werden”. “Das schlägt kein Wissenschaftler vor”, sagte Lauterbach . Er folgerte: “Die Frage nach der Strategie ist für mich sekundär.”

Zweites Thema: Tests, Impfstoffe und Medikamente

Die Virologin Sandra Ciesek konstatierte: „Es werden immer noch zu wenig Tests produziert, um alle zu testen, die nur leichte Symptome haben.” Zwar gibt es seit dieser Woche einen Test, der auf Vollautomaten laufen kann. „Dadurch können wir viel mehr testen, trotzdem ist die Anzahl der Tests begrenzt”, sagte Ciesek. Die Krankenschwester Falckner ergänzte: „Es ist notwendig, dass insbesondere Pflegepersonal getestet werden kann.”

Auf der Suche nach einem Impfstoff und wirksamen Medikamenten müsse man auf beide Komponenten gleichermaßen setzen, sagte Ciesek. „Einen Impfstoff zu entwickeln, das wird dauern.” Deshalb sei es richtig und wichtig, genauso intensiv nach antiviralen Medikamente zu suchen.

Drittes Thema: Schutzkleidung für Ärzte und Pflegepersonal

Ob Deutschland als Nation mit einem erstklassigen Gesundheitssystem nun ausgerechnet an fehlenden Einwegartikeln wie Schutzbekleidung scheitern würde, fragte Ilnner den FDP-Politiker Ullmann. Der antwortete erst vage, dann aber mit klarer Haltung: „Das kann ich nicht beurteilen, aber die Zahlen sind schon besorgniserregend. Es sind Materialien auf dem Weg nach Deutschland, aber in der Vorbereitung auf die Pandemie haben wir scheinbar knapp kalkuliert.”

Pflegekraft Falckner, die ihre Zunft in der Petition an Bundesgesundheitsminister Spahn als „Kanonenfutter” bezeichnet hatte, beklagte jedenfalls nachdrücklich den Mangel an Schutz. „In Deutschland lag bereits eine Altenpflegerin auf der Intensivstation. Deshalb ist es unabdingbar, dass wir die nötige Schutzkleidung bekommen, um eben kein Kanonenfutter zu werden.”

Viertes Thema: Vorbereitung und Zeit

Ein wenig rauer wurde die Luft, als Achim Theiler zu Wort kam. Der Geschäftsführer eines Herstellers von Schutzkleidung und Atemschutzmasken polterte herum - entnervt, ein wenig frustriert und mit reichlich Spott. Bereits am 5. Februar hatte Theiler einen Brief an Gesundheitsminister Spahn geschrieben und ihn gebeten, den Markt zu prüfen. „Aber ich habe nie eine Antwort erhalten”, sagte er.

Die Vorbereitung auf die Pandemie kritisierte er scharf. Im Vergleich zu China habe Deutschland „sechs Wochen Zeit” gehabt, doch “es ist nichts passiert.”

Auf die Frage Illners, ob es bald zu Beschlagnahmungen von Schutzmaterialien kommen werde, reagierte Theiler mit einem lauten Lachen. „Was soll denn beschlagnahmt werden?”, fragte er süffisant. „Das ist lustig. Denn bei uns im Lager ist nichts.” Theilers Firma habe am Donnerstag eine Lieferung mit 200.000 Atemschutzmasken erhalten. “Die sind reingekommen und direkt wieder rausgegangen.”

Man tue alles, dass Ware nach Deutschland komme. „Aber sie muss kommen”, sagte Theiler. Er forderte: „Wir müssen nachdenken, ob Masken nicht bald bei uns produziert werden sollten, oder ob man hier zumindest das Know-how dafür hat.”

Fünftes Thema: Pflegepersonal

Die Bedeutung und vor allem die Arbeit des Pflegepersonals ist im Angesicht der Corona-Krise mit aller Macht ins öffentliche Bewusstsein gedrängt. Darüber freute sich Pflegerin Falckner: „Pflege ist ein Fundament, sie ist eine Ressource für die Gesellschaft.”

Dass immer mehr Menschen vor allem in den Sozialen Medien die Pflegekräfte mit Applaus bedenken, finde sie „wunderbar”, holte dann aber die ironische Peitsche hervor: „Noch besser wäre es aber, wenn sich die Menschen dabei auch für höhere Löhne für Pflege einsetzen würden.”

Das sah auch SPD-Politiker Lauterbach so. „Wir müssen jetzt Sonderlösungen finden, dass Pflegekräfte pauschal einen deutlichen Zuschlag bekomme”, forderte er. Das sei einerseits eine Anerkennung für das Geleistete, andererseits aber auch ein Anreiz für abgesprungene Fachkräfte, um in die Pflege zurückzukehren.

Dann sagte der Gesundheitsexperte kurz vor Ende im Grunde die wichtigsten, und für die Allgemeinheit interessantesten Worte des Abends. Die Krise werde „noch anderthalb Jahre dauern”, betonte er. „Ich gehe nicht davon aus, dass wir vor allem in Krankenhäusern vorher zur Normalität zurückkehren.”

Fazit

Eine inhaltlich ertragreiche Sendung, die viel von wissenschaftlicher Expertise und den hautnahen Erfahrungen der Krankenpflegerin lebte. Achim Theiler sprengte mit seinem Auftritt ein wenig den sachlichen, thematisch tiefgehenden Rahmen des Diskurses, sorgte allerdings für Auflockerung und überbrachte seine Botschaft mit Nachdruck. Kritik äußerte nicht nur er: in seinem Fall zielte sie auf die mangelnde Vorbereitung ab. Auch Lauterbach und Falckner tadelten die miserablen Arbeitsumständen des Pflegepersonals und ihre niedrigen Bezahlung.

Trotz dieser Beanstandungen bleibt es dabei: Wirklich abgerechnet wird erst zum Schluss. (rnd)