Faszination PfeilewerfenWarum die Darts-WM jedes Jahr so viele Leute begeistert

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Der deutsche Darts-Profi Gabriel Clemens hat einen Krimi bei der WM in London für sich entschieden und steht erneut im Achtelfinale.

Der deutsche Darts-Profi Gabriel Clemens hat einen Krimi bei der WM in London für sich entschieden und steht erneut im Achtelfinale.

Seit Jahren ist die Darts-WM fester Bestandteil im TV-Programm. Der frühere Partysport gewinnt stets mehr Fans – aber warum bloß? Eine Analyse.

Das Spiel ist einfach: eine Scheibe, zwei Kontrahenten, je drei Pfeile und 501 Punkte, die auf null gebracht werden müssen. Darts erlebt seit einer Dekade einen Hype ohne Grenzen, gerade zum Jahreswechsel. Dann steht die Weltmeisterschaft an, das Turnier mit dem meisten Prestige. Wenn die Stars der Szene im Londoner Alexandra Palace auf die Bühne kommen, sind alle Blicke auf sie gerichtet.

Die Hochpräzisionssportart sorgt von Mitte Dezember bis Anfang Januar bei den übertragenden Sendern für starke Einschaltquoten. Zum WM-Auftakt am 15. Dezember waren 640.000 Zuschauerinnen und Zuschauer in der Spitze dabei, gab der Spartensender Sport 1 bekannt. Hinzu kommt die Reichweite des kostenpflichtigen Streamingdienstes DAZN, der ebenfalls Rechte am Höhepunkt des Dartsjahres hält, aber naturgemäß keine Einschaltquoten bekannt gibt.

Der Trendsport begeistert nicht nur Millionen Fans in Deutschland vor den Bildschirmen. Von den rund 85.000 Tickets, die für den als „Ally Pally“ bekannten Austragungsort im Londoner Norden verkauft worden sind, gingen mehr als 9000 Karten an deutsche Dartsanhängerinnen und ‑anhänger – also mehr als 10 Prozent.

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Und doch bleibt die Frage: Wie konnte der Sport mit den fliegenden Pfeilen einen derartig durchschlagenden Erfolg feiern? Die Gründe für den Höhenflug sind vielschichtig.

Drei Gründe für den Erfolg

Es ist zum einen die Spannung, obwohl das Spiel an sich wenig Abwechslung bietet. Wer zuerst von 501 auf null kommt, gewinnt ein Leg. Dafür braucht es am Ende einen Treffer auf das Doppelfeld, dem äußeren Ring des Dartsboards. So stehen Entscheidungen im Minutentakt an. Verpasst der eine, kann die andere seine Chance nutzen. Es geht hin und her.

Das Besondere an der WM ist der Satzmodus: Für einen Satz braucht es drei gewonnene Legs. In den ersten Runden reichen drei Sätze zum Weiterkommen, es steigert sich bis zu sieben, die im Finale für den Titel gewonnen werden müssen. Schnelle Wendungen sind garantiert, Überraschungen von Außenseitern umso höher zu bewerten, weil sie den Favoriten über eine lange Strecke bezwingen und in den richtigen Momenten eine ruhige Hand bewahren müssen. Die mentale Stärke ist enorm wichtig. Sportpsychologin Simone Moczall bezeichnet Darts in ihrer Dissertation als „faszinierende Präzisionssportart, die eine hohe psychische Stärke von den Athleten fordert“.

Erfolgreich und unbeliebt

Die Charaktere machen ebenfalls den Reiz am Darts aus. Gerwyn Price ist aktuell der Weltranglistenerste. Der ehemalige Rugbyprofi aus Wales hat sich in den vergangenen Jahren nach oben gekämpft. Sein Ehrgeiz und seine Emotionen, die manchmal Konflikte mit Gegnerinnen und Gegnern zur Folge haben und ihm nicht selten Unmut im Publikum einbringen, sind sein Markenzeichen. Peter Wright, amtierender Weltmeister, überrascht mit seinen auffälligen Outfits. Fallon Sharrock, eine der besten Frauen der Szene, die vor drei Jahren als erste WM-Teilnehmerin überhaupt Siege einfahren konnte und sogar bis in die dritte Runde kam, gilt als Vorbild für eine ganze Generation von Dartsspielerinnen. Eine davon ist Beau Greaves, gerade 18 Jahre alt, die in diesem Jahr ihr Debüt feierte, aber schon in der ersten Runde ausschied.

Ein dritter entscheidender Faktor ist die Inszenierung. Darts ist Entertainment. Dabei spielen die Fans eine zentrale Rolle. Sie grölen lautstark mit und sorgen mit bunten Kostümen für eine ausgelassene Atmosphäre, dabei darf das Bier nicht fehlen. Es beginnt beim Einlaufen der Spieler, die vom „Master of Ceremonies“ am Mi­kro­fon angesagt werden und begleitet von ihrem Lieblingssong auf die Bühne kommen.

Von den rund 3000 Zuschauerinnen und Zuschauern pro WM-Session – eine am Mittag und eine am Abend mit je vier Spielen – besonders bejubelt werden drei Treffer in das schmale Triple-20-Feld, die zur Höchstpunktzahl von 180 führen. Herbeigesehnt wird ein Neundarter, das perfekte Spiel, also das Auslöschen von 501 Punkten mit nur neun Pfeilen, was den wenigsten Spielerinnen und Spielern auf den großen TV-Bühnen überhaupt gelingt.

Der Erste, der das große Vermarktungspotenzial von Darts erkannt hat, war Barry Hearn. Der mittlerweile 74 Jahre alte Engländer ist einer der erfolgreichsten Sportmanager der Welt. Mit Beginn der 1980er-Jahre entwickelte er Snooker zu einer Fernsehattraktion. Hearn war im Besitz von Spielhallen, in denen er die Variation des Billards selbst betrieb. „Aus dem Nichts hat die BBC angefangen, Snooker im Fernsehen zu zeigen“, sagte er vor fünf Jahren am Rande einer Veranstaltung in England. „Alle wollten jetzt Snooker sehen, und das gab es nur in meinen Spielhallen.“

Mit eiserner Disziplin und cleveren Deals entwickelte er die Sportart zu großem Erfolg – und sich selbst zum reichen Sportpromoter. Mit 30 Jahren war Hearn, aufgewachsen im Großbritannien der Nachkriegszeit in der englischen Region Essex, ein gemachter Mann. Boxen wurde sein nächster Erfolg, auch kuriose Disziplinen wie das Sportangeln gehörten bald zum Portfolio seines Unternehmens Matchroom Sports. Dann kam Darts dazu – ein lange Zeit belächelter Kneipensport mit Ursprüngen im Vereinigten Königreich, das Hearn zu gigantischen Erfolgen führen sollte.

Hearn erkennt Potenzial

1994 gründete er gemeinsam mit Phil Taylor die Professional Darts Corporation (PDC). Taylor war als Spieler seinerzeit die unangefochtene Nummer eins und stieg aus dem Amateurverband aus. Es war der Startschuss für Profidarts. Der heute 62-jährige Engländer war lange Zeit das Gesicht seiner Sportart. Als der Hype zum Ende des vergangenen Jahrzehnts immer weiter Fahrt aufnahm, war seine Laufbahn schon am Endpunkt. Er gewann bis zu seinem Karriereende Anfang 2019 insgesamt 16 Weltmeistertitel. Sein letzter Auftritt vor drei Jahren war das WM-Finale gegen den damaligen Emporkömmling Rob Cross – die Niederlage des großen Meisters sahen bei Sport 1 im Schnitt mehr als zwei Millionen Zuschauer, in der Spitze waren es 2,15 Millionen – bis heute unerreichter Rekord für eine Dartsübertragung in Deutschland.

Taylors Nachfolger haben für weiter steigende Zuschauerzahlen und hohe TV-Reichweiten gesorgt. Die Preisgelder erreichten immer neue Dimensionen. In den vergangenen acht Jahren hat sich die Prämie bei der WM verdoppelt – von 1,25 auf 2,5 Millionen britische Pfund für die nun 96 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Turniers. Der Sieger am 3. Januar 2023 erhält 500.000 Pfund, umgerechnet rund 580.000 Euro.

Deutschland braucht einen Superstar

Über die Jahre hat Darts auch hierzulande stets neue Fans gewonnen. Bei der WM sind mit Gabriel Clemens, Martin Schindler und Florian Hempel drei Spieler aus Deutschland gestartet. Clemens (Nummer 25) und Schindler (Nummer 29) gehören immerhin zur Top 32 der Weltrangliste, die sich aus den gewonnenen Turnierpreisgeldern der vergangenen zwei Jahre errechnet, und sind Dauergäste im „Ally Pally“ beim Jahreshöhepunkt. Hempel ging zum zweiten Mal an den Start.

Für einige Überraschungen haben sie in der Vergangenheit in London schon gesorgt. Der Saarländer Clemens bezwang vor zwei Jahren den Schotten Wright, damals wie heute amtierender Titelträger, und spielte sich so als erster Deutscher überhaupt ins Achtelfinale. Im vergangenen Jahr siegte Hempel in der zweiten Runde gegen den damaligen Weltranglistenfünften Dimitri van den Bergh. Doch bisher hat es noch nie einen großen internationalen Titelgewinn eines deutschen Dartsspielers gegeben.

Geht die Begeisterung an den fliegenden Pfeilen in den kommenden Jahren ungebremst weiter? Elmar Paulke kennt sich bestens aus. Der TV-Kommentator begleitet den Sport seit knapp 20 Jahren, arbeitete jahrelang für Sport 1 und ist mittlerweile für DAZN am Mikrofon. Paulke gilt als die Stimme des Darts in Deutschland. „Mit Blick auf Fans und Einschaltquoten ist die natürliche Grenze bald erreicht“, sagt der 52-Jährige dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Es fehlt der Deutschland-Faktor, es braucht den deutschen Toperfolg.“ So wie es Boris Becker und Steffi Graf im Tennis oder Jan Ullrich im Radsport waren.

Bei einem deutschen WM-Sieger würde das Wachstum explodieren

Die bisherige Entwicklung gab es ohne deutschen Topstar. „Wir sind nicht davon abhängig“, betont Werner von Moltke gegenüber dem RND. Er hält mit der PDC Europe die Rechte im Profidarts auf dem europäischen Festland, veranstaltet Turniere und zieht die Stars nach Deutschland und in die Nachbarländer. Dazu zählen 13 Events „von Kiel bis Graz“, sagt von Moltke, dazu die Team-WM und die European Championship.

Ein Fakt steht stellvertretend dafür, dass Deutschland ein wichtiger Markt ist: Das Finale der Premier League fand im Sommer in der Mercedes-Benz-Arena in Berlin vor 12.000 Zuschauerinnen und Zuschauern statt – ausverkauft. Nie zuvor wurde das Endspiel des hinter der WM und dem World Matchplay drittwichtigsten Events im Darts außerhalb der britischen Inseln ausgetragen. Doch ohne deutschen Superstar wird es schwierig, noch weiter zu wachsen, weiß auch von Moltke: „Der nächste große Sprung kommt erst, wenn ein deutscher Weltmeister wird oder es unter die ersten fünf der Welt schafft.“

Michael van Gerwen ist einer der besten Spieler der Welt. Lange Zeit war er die Nummer eins. Der 33-jährige Niederländer ist dreimaliger Weltmeister, hat nahezu 50 große Turniere gewonnen. Van Gerwen behauptet sich seit über einem Jahrzehnt als Topstar in seiner Sportart. Sein Wort hat Gewicht. „Der deutsche Markt ist riesig, es werden mehr gute Spieler kommen“, sagte er im Vorjahr im RND-Interview. Und sobald einem Pfeilejäger aus Deutschland der ganz große Wurf gelingt, ist die Chance groß, dass rund um die Weihnachtsfeiertage noch mehr Menschen einschalten. Diese Rechnung ist so einfach wie das Spiel.

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