„Flug nach Leipzig war geplant“Hätte Riesenflieger „Mrija“ gerettet werden können?
- Das größte Flugzeug der Welt ist im Krieg gegen die Ukraine zerstört worden. Es konnte nicht rechtzeitig ausgeflogen werden, erklärt das Unternehmen Antonov.
- Aber einer ihrer Kapitäne widerspricht.
Fliegen? Nein, das kann nicht sein. Nicht dieser 285-Tonnen-Koloss, unmöglich. Oder doch? Wer schon einmal am Leipziger Flughafen die „Mrija“, die größte Antonov, die Kaiserin, die Königin der Lüfte, oder genauer: die An-225, also das größte Flugzeug der Welt, erblickt hat, muss sich das gefragt haben. Aber natürlich flog sie. „Mrija“, auf ukrainisch heißt das „Traum“.
Jetzt gibt es sie nicht mehr. Als Russlands Präsident Wladimir Putin vor zwei Monaten die Ukraine angreifen ließ, zerstörten seine Soldaten am Kiewer Flughafen auch den ukrainischen Traum. Unwiederbringlich, wahrscheinlich. Aber dazu später mehr. Denn bevor man verstehen kann, ob das unmögliche Flugzeug eines Tages wieder in die Luft steigen wird, muss man selbst nach oben: auf einen stählernen Turm am Leipziger Flughafen.
Der Planespotter
Hier steht schon Mario Welz. Wann immer ein Flugzeug, das ihn interessiert, in Leipzig landet, kommt er hierher. Er bleibt dann oft viele Stunden. Welz ist ein sogenannter Planespotter, er ist Teil einer Community, die Flugzeuge beobachtet, fotografiert und mit Funkgeräten versucht, die Kommandos zwischen Tower und Piloten mitzuhören. Und am allerliebsten sah Welz der An-225 beim Landeanflug zu. Oder beim Tanken. Oder beim Herumstehen. „Manchmal blieb ich 16 Stunden lang bei ihr“, sagt er.
Welz war dabei nicht der Einzige. Wenn sich die An-225 in Leipzig ankündigte, legten die Planespotter am Flughafen manchmal den Verkehr lahm. Welz nahm sich immer tagelang frei. Dann saß er hier von früh bis spät, fuhr mit dem Fahrrad am Flughafenzaun entlang und um sie herum. Manchmal hatte er Grillzeug dabei. Ab und zu legte er sich ins Gras, schaute sie von unten an. Die leicht absinkenden Tragflächen mit den sechs Triebwerken. Die Schnauze wie die eines Pelikans. Und sehen die Fenster des Cockpits nicht eigentlich wie traurige Augen aus? Der herrliche gelb-blaue Lack am Flugzeugbauch. Antonov ist ein ukrainischer Staatskonzern.
„Ich wollte bei ihr sein“, sagt Welz. „Und wenn ich dann abends die Augen zugemacht habe, waren da nur Triebwerke in meinem Kopf.“
Aber, sagt Welz, mit Romantik habe das nichts zu tun. Nicht wie etwa bei der 26-jährigen Berlinerin, die durch die Medien ging, weil sie sich mit einer Boeing verlobte, nein. Aber doch, Welz fühlte sich hingezogen zu der An-225. Er verbrachte so viel Zeit mit ihr, dass seine Freundin ihn einmal zur Rede stellte: „Was macht das Flugzeug, dass du dem so viel Aufmerksamkeit schenkst?“ Welz wusste keine Antwort. Warum liebte er das Flugzeug so sehr? „Das ist eben das, was ich mir nicht erklären kann“, sagt er.
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Wahrscheinlich liegt die Antwort in seiner Kindheit. Welz ist ganz in der Nähe eines anderen Flughafens südlich von Leipzig aufgewachsen. Er erinnert sich an die Düngerflugzeuge. Es waren sowjetische Antonovs, die über den Feldern vor seinem Haus ihre Ladung abließen. Und an die Jagdflugzeuge, die über seinem Ort Angriffe gegen den Westen simulierten. Dann rannte Welz vor die Tür, und rund 40 Jäger rauschten über seinen Kopf. „Das hat mich fasziniert“, sagt er. „Aber ich dachte, das wächst sich irgendwann raus.“
Aber auch als erwachsener Mann wollte Welz alles über Flugzeuge wissen. 2013 sah er sie dann zum ersten Mal. Die An-225 landete damals immer häufiger in Leipzig – auch, weil sie im Falle von Expressgut nachts fliegen durfte. Die Planespotter, die extra für die Antonov nach Leipzig kamen, nannten die Stadt nur noch „Antonov City“. Insgesamt 32-mal landete die An-225 hier. Seit 2013 hat Welz sie nicht einmal verpasst.
Der Traum
Nach allem was man weiß, wurde die An-225 einige Tage nach Kriegsbeginn zerstört. Erst war es nur ein Gerücht, das sich auf unscharfe Satellitenbilder stützte. Aber dann, nach der Rückeroberung des Kiewer Flughafens Hostomel durch ukrainische Truppen, tauchten erste Videos auf, die Soldaten vor Ort gemacht hatten. Und mit ihnen die Gewissheit: Die „Mrija“ wurde zerstört, fast völlig. Während der Rumpf, eine Tragfläche und einige Triebwerke unversehrt blieben, muss das Cockpit komplett in Flammen aufgegangen sein. An den Seiten sind Einschusslöcher durch russische Munition zu erkennen. „Das ist eine Hinrichtung“, schreiben manche unter die Videos. Ganz so, als hätten die russischen Truppen die An-225 nicht nur flugunfähig machen, sondern sie symbolhaft vernichten wollen.
Denn das war sie ja, ein Symbol. Zuerst für die einst starke Sowjetunion. 1989 wurde sie gebaut, um die sowjetische Raumfähre „Buran“ transportieren zu können. Die „Mrija“ flog die „Buran“ huckepack umher. Und nicht die Amerikaner, sondern die Russen hatten das größte Flugzeug der Welt. Ein einziger sowjetischer Traum.
Bis die Sowjetunion zerfiel. Und Antonov ein ukrainisches Staatsunternehmen wurde. Die An-225 war nun der Stolz der unabhängigen Ukraine. Sie flog Dinge, die eigentlich unmöglich fliegen können: Bauteile für eine Ölpipeline. Gigantische Generatoren für Kraftwerke. Aber mit den Jahrzehnten wurden ihre Einsätze seltener. Bis sie Ende 2021 einen zweiten Frühling erlebte und mehrmals tonnenweise Corona-Schutzausrüstung aus Vietnam nach Leipzig flog. Die „Mrija“ flog in ihren letzten Monaten mit so viel Fracht wie kein Flugzeug der Luftfahrtgeschichte zuvor.
Eine Frage stellt sich unweigerlich: Warum in aller Welt überließ man solch ein einmaliges Flugzeug dem Krieg?
Der Kapitän
Es gibt zwei Theorien, warum die An-225 nicht rechtzeitig ausgeflogen wurde. Die offizielle erhält man, mit ein wenig Geduld, vom Staatsunternehmen Antonov. Sie geht so: Man habe sich Anfang 2022 zusammengesetzt und diskutiert, wie man die Flugzeuge der Airline, inklusive des weltgrößten, in Sicherheit bringen könnte. Ein Standort stand schnell fest: Leipzig. Man habe den Flughafen kontaktiert, Leipzig sagte zu. „Wir schätzen die Zusammenarbeit mit unseren deutschen Kollegen und ihre Unterstützung“, sagt ein Antonov-Sprecher.
Aber an der Antonov wurde gerade geschraubt. Ein rechtes Triebwerk musste in Nachtschichten neu angebracht werden. Erst am Abend des 23.Februar war es dann so weit. Die Maschine wurde mit 70 Tonnen Treibstoff betankt, ausreichend für die Strecke bis Leipzig. „Der Flug nach Leipzig war für den nächsten Morgen geplant“, bestätigt Antonov gegenüber Leipziger Volkszeitung (LVZ). Doch am frühen Morgen, wenige Stunden vor dem geplanten Abflug, greift Russland mehrere Ziele in der Ukraine an. Auch am Flughafen Hostomel, dem Antonov-Flughafen, landen Putins Luftlandetruppen, es kommt zu schweren Gefechten, verschiedene Hangars gehen in Flammen auf. In den nächsten Tagen wird auch die An-225 zerstört.
Also alles ein riesiges Pech? Es gibt einen Mann, der etwas anderes vermutet. Der glaubt, dass Antonov wohl wissend, dass der Krieg kommt, seine An-225 nicht rechtzeitig ausfliegen ließ.
Dmitry Antonov hat in einem blau-weiß gestreiften T-Shirt vor seinem Computer Platz genommen. Es ist ein Zufall, vielleicht ein kleiner Witz der Geschichte, dass ausgerechnet er Antonov heißt: Einer der fünf Kapitäne, die in der Lage waren, die An-225 zu fliegen. Mehrere Tausend Stunden hat er in dem Cockpit verbracht, viele Male ist er in Leipzig gelandet und abgehoben. Auf seinem Youtube-Kanal kann man sich Videos ansehen, die er während der Flüge aufzeichnete. „Die Fans der Maschine sind süchtig danach“, sagt er und schmunzelt. „Und auch ich trage das Flugzeug noch in meinem Herzen.“
Anfang März, als am Flughafen Hostomel wieder Ruhe eingekehrt war, ging auch Kapitän Antonov mit einem Fernsehteam hin. Er selbst filmte auch. Es war ein verregneter Tag. Erst spät, ganz hinten im Nebel, taucht in dem Video die zerstörte An-225 auf. „Lass uns ‚Mrija‘ ansehen“, sagt er. „Hallo, mein Flugzeug.“ Dann streichelt der Kapitän die zerstörte Tragfläche der Maschine. Dabei hört man ihn immer wieder seufzen und schluchzen.
Antonov veröffentlichte noch ein weiteres Video. Diesmal ist er weniger sentimental. Stolz steht er in einem Antonov-T-Shirt vor der Kamera. Neben ihm sein grauer Papagei. Dann erzählt Antonov von seiner Theorie, die seither durch die Planespotter-Szene kursiert.
Schon am 26. Januar habe es einen Appell gegeben, sagt Kapitän Antonov, von der Nato und einer Versicherung, an die Führungsetage von Antonov. „Alle Flugzeuge müssen umziehen“, hätte es geheißen. „Für den Fall eines Krieges.“ Aber es habe keine Antwort gegeben. Einige Tage nach Kriegsbeginn wurde dann der Chef der Airline, Sergei Bychkov, entlassen. Offiziell, weil er die An-225 nicht rechtzeitig ausfliegen ließ. Warum nicht? Dazu schweigt die Airline. Kapitän Antonov und viele andere glauben: Bychkov hatte gute Kontakte nach Russland und überließ die „Mrija“ ganz bewusst Putins Truppen. Beweise dafür hat er nicht.
Auch im Gespräch mit der LVZ wiederholt der Kapitän die Theorie, dass die Antonov Airline rechtzeitig gewarnt wurde. „Ich habe sogar angeboten, die An-225 selbst nach Leipzig auszufliegen. Sie war bereit.“ Warum ließen sie ihn nicht? Tja, sagt der Kapitän. Im Krieg sterbe eben die Wahrheit zuerst.
Die Hoffnung
Schon kurz nach Zerstörung des Flugzeugs erklärte die Airline, sie wolle die „Mrija“ wieder aufbauen. Kosten: drei Milliarden Dollar. „Unsinn“, meint dazu etwa die Luftfahrtjournalistin Laura Frommberg. Die An-225 sei eine „Ikone“ gewesen, aber sie mache wirtschaftlich keinen Sinn. „Das Politbüro der KPdSU wollte ein großes Flugzeug, also wurde es gebaut.“ Heutzutage würde sie kaum noch gebraucht.
Wird nie wieder eine An-225 fliegen? Auch Götz Ahmelmann, Chef des Flughafens Halle/Leipzig, hat von den Wiederaufbauplänen gehört. „Das wäre wirklich eine schöne Sache“, sagt er. Denn die An-225 wäre auch heute ein Symbol: Für die Ukraine, gegen den Krieg. „Offenbar kann ein solches Flugzeug ein Zeichen der Hoffnung sein.“, sagt Ahmelmann. „Dann ist es wichtig, sich emotional daran aufzubauen.“