Die Krawalle seit dem Tod eines Teenagers bei einer Polizeikontrolle zwingen Frankreichs Präsidenten zu einem schwierigen Kompromiss zwischen Verständnis und Härte.
FrankreichKrawalle zwingen Macron zu schwierigem Kompromiss
Paris - 100 Tage hatte sich Emmanuel Macron gegeben, um „das Land zu beruhigen“. Der Stichtag sollte eigentlich am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, sein. Das kündigte der Präsident im April an, nachdem seine unpopuläre Rentenreform ohne abschließendes Votum im Parlament beschlossen, aber der Zorn über dieses Vorgehen in weiten Teilen der Bevölkerung und unter den Gewerkschaften weiterhin groß war.
Seitdem reiste er durchs Land und machte etliche Versprechen für Verbesserungen etwa in den Bereichen Schulbildung und medizinische Versorgung. Seine Beliebtheitswerte stiegen wieder. Zuletzt konnte er auch wieder ein Bad in der Menge nehmen, ohne dass es durch Protestrufe und Geschirrgeklapper gestört wurde.
Für Juli war eine Regierungsumbildung vorgesehen, um nach der Sommerpause mit neuem Elan wieder anzufangen.
Macrons Reaktion auf Unruhen: Ein schmaler Grat
Doch der gewaltsame Tod des 17-jährigen Nahel bei einer Polizeikontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre vor einer Woche und die darauffolgenden Unruhen im ganzen Land machen diese Pläne zunichte. Mehr denn je befindet sich Frankreich in Aufruhr. Macron muss einen schmalen Grat entlang wandeln, indem er einerseits Härte gegenüber den Krawallmachern zeigt, andererseits aber auch Verständnis für die Bestürzung über die Tötung des Teenagers zeigt, um die Stimmung nicht anzuheizen.
Der Staatschef werde danach beurteilt, ob es ihm gelingt, die Spannungen zu beruhigen, sagt Jean Garrigues, Spezialist für politische Geschichte: „Die Gefahr besteht für ihn darin, als schwach und unentschlossen zu erscheinen.“
Der Bereich innere Sicherheit gilt nicht als Macrons Stärke. Mit dem früheren Konservativen Gérald Darmanin hat er das Innenministerium mit einem Hardliner besetzt, um Vorwürfe der Laxheit, die ihm die Republikaner und die Rechtsextremen machen, abzufedern. Die rechten Oppositionsparteien überbieten einander mit Forderungen nach einem harten Durchgreifen. „Man darf diesen Barbaren in nichts nachgeben“, tönte Republikaner-Chef Éric Ciotti.
Macron: Staatsbesuch in Deutschland abgesagt
Seinen für Wochenbeginn geplanten Staatsbesuch in Deutschland sagte Macron ab, um präsent zu bleiben. Der frühere Präsident Jacques Chirac hatte bei den Krawallen in den Vorstädten, den Banlieues, im Jahr 2005 mehrere Tage und Nächte verstreichen lassen, bevor er eine öffentliche Erklärung abgab und den Ausnahmezustand ausrief. Auslöser für die damaligen Unruhen war der Tod zweier Minderjähriger auf der Flucht vor der Polizei durch einen Stromschlag in einem Trafohäuschen im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois gewesen. Chiracs damaliger Innenminister und späterer Nachfolger Nicolas Sarkozy stellte sich sofort hinter die Sicherheitskräfte, noch bevor die Untersuchung der Vorfälle begann.
Macron hingegen reagierte noch am Tag selbst. Er nannte Nahels Tod „unerklärbar, unentschuldbar“ und brachte damit eine Polizeigewerkschaft gegen sich auf, die eine Vorverurteilung des Schützen beklagte. In der Folge kritisierte Macron aber auch deutlich die Zerstörungen von Autos, Schulen, Kindergärten oder Straßenbahnen. Es handele sich um die „inakzeptable Instrumentalisierung des Todes eines Jugendlichen“.
An diesem Dienstag empfing der Präsident die Bürgermeister von mehr als 220 Kommunen, deren Rathäuser beschädigt worden waren. Die Vereinigung der französischen Bürgermeister hatte am Montag zu einer bürgerlichen Zusammenkunft aufgerufen, um eine „Rückkehr zur republikanischen Ordnung“ zu fordern. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatten Unbekannte mit einem gestohlenen Auto das Wohnhaus des Bürgermeisters der Pariser Vorstadt L’Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun, gerammt, in dem seine Frau und seine beiden fünf und sieben Jahre alten Kinder schliefen. Die Täter versuchten sogar, das Haus anzuzünden. Die Frau und eines der Kinder wurden verletzt. „Ich habe keine Worte, die stark genug sind, um meine Gefühle nach dem Horror dieser Nacht zu beschreiben“, sagte Jeanbrun.
Frankreich: Suche nach tieferen Ursachen
Die Nächte auf Sonntag und auf Montag verliefen ruhiger, es gab weniger Zerstörungen, Festnahmen und Verletzte. Langfristig werden die Erwartungen gegenüber Macron steigen, Antworten auf die tiefer liegenden Gründe für diese Krise zu finden. Wie umgehen mit den Vorwürfen gegen die Polizei, unangemessen gewaltsam vorzugehen und zu schnell beim Einsatz von Waffen zu sein, mit der sozialen Misere in manchen Banlieues, dem dort fortbestehenden Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein?
Als Nahel M. erschossen wurde, befand sich Macron gerade auf einem dreitägigen Besuch in Marseille, seiner Lieblingsstadt, die mit schweren Problemen kämpft. Um die Armut, die Kriminalität und den Drogenhandel zu bekämpfen, hatte er vor zwei Jahren das Programm „Marseille in groß“ aufgelegt, bei dem der Staat 5 Milliarden Euro unter anderem in die Renovierung von Häusern und Schulen steckt. Künftig wird erwartet, dass er sich mit seinen Ideen, hohen Investitionen und dem Versprechen einer tiefgreifenden Veränderung nicht nur auf die Stadt am Mittelmeer konzentriert, sondern auf das ganze Land.