Bislang führt Frankreich lediglich vor, wie es nicht geht – indem es in einer laufenden Krise das Drama noch steigert.
Kommentar zu FrankreichMacrons Egozentrik ist Teil des Problems
Als Emmanuel Macron im Jahr 2017 erstmals Präsident von Frankreich wurde, wollte er Land und Leuten „Lust auf Zukunft“ machen: zupackend, visionär, die Ärmel des perfekt sitzenden Hemds gern hochgekrempelt, wie eine europäische Version von Barack Obama.
Macron sparte nie mit Pathos. Als er nächtens vor dem prächtig illuminierten Louvre sprach, bahnten ihm blaue, weiße und rote Lichtkegel aus mächtigen Scheinwerfern den Weg zur Bühne. Sein Thema waren Reform und Erneuerung, und zwar gleich von ganz Europa. In Berlin zuckte seinerzeit eine gewisse Angela Merkel leise zusammen: Woher schöpfte der Neue so viel Elan und so viel Selbstbewusstsein? Alles aus sich selbst?
Seine innenpolitische Vision breitete Macron damals bei einem Auftritt im Schloss von Versailles aus. Macron beschrieb seinen Kampf für ein „progressives Projekt“, wie er es nannte: „Modernität, das bedeutet Schritt für Schritt einen gerechteren, effizienteren Weg zu gehen und jeden Tag neu die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ins eigene Handeln zu integrieren.“ Das gab breiten Applaus, und manche Gäste im Schloss staunten über die „fast schon literarische Rede“.
Der Staatschef bezieht alles auf sich
Man muss diese Vorgeschichte kennen, um das ganze Drama der schlimmen Gegenwart zu erfassen. Zu besichtigen ist jetzt, im Juli 2023, nicht irgendein Politiker in Schwierigkeiten, das gibt es immer mal wieder und überall in Europa. Zu besichtigen ist der spektakuläre Absturz eines Staatschefs aus extremen Fallhöhen, die er über Jahre hinweg eigenhändig geschaffen hat.
Kriminologen und Soziologen reden sich angesichts der Jugendgewalt derzeit die Köpfe heiß über Ursachen und eine intelligente Gegenwehr. Auf einen entschlossenen Auftritt der Polizei wird Frankreich angesichts von außer Rand und Band geratenen Gewalttätern nicht verzichten können. Zugleich aber müssen die Ursachen des offenkundigen Misserfolgs der französischen Integrationspolitik genau durchleuchtet werden. Hier gibt es eine lange Liste offener Fragen.
Was aber garantiert niemandem weiterhilft, ist ein rund um die Uhr übereifriger Staatschef, der nun alles auf sich bezieht. Was beispielsweise ist dadurch besser geworden, dass Macron seinen seit Langem geplanten dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland abgesagt hat? Der französische Staatspräsident hat das Drama auf diese Weise noch gesteigert.
Den Randalierern im eigenen Land verschaffte Macron damit ungeahnte Wirkmacht. Der Präsident stachelt sie auf diese Art zu immer neuen Gewaltexzessen an.
Zentralisierung plus Aufgeregtheit
Noch schlimmer aber ist die Wirkung quer durch Europa. Macron sendet anderen Regierungen SOS-Signale: Tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht mehr den normalen Regierungsgeschäften nachgehen. Themen wie eine gemeinsame Linie gegenüber dem rätselhafter denn je gewordenen Russland zum Beispiel sind jetzt mal zweitrangig. Auch die Abstimmung einer gemeinsamen Strategie zur schrittweisen Annäherung der Ukraine an die Nato muss jetzt einfach mal warten.
Am Montag ließ sich Macron bei einem deutsch-französischen Forum in Baden-Württemberg mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch eine eilends aus Paris entsandte Staatssekretärin für Europaangelegenheiten vertreten. Macron selbst hielt unterdessen in Paris eine Krisenrunde nach der nächsten ab. Für Dienstag hat er ein Treffen mit den Bürgermeistern von mehr als 220 Gemeinden aus ganz Frankreich anberaumt. Statt endlich einen anderen Stil zu suchen, greift Macron in seiner Not wie gehabt zu Pomp und großen Gesten.
Macron verkennt, dass sich in Frankreich die Kombination von Aufgeregtheit und Zentralisierung immer wieder als eine Anleitung zum Unglücklichsein entpuppt hat. Als Deutscher gibt man den Freunden in Frankreich ungern einen Tipp. Aber die oft belächelte Gliederung der Bundesrepublik in Länder hat unschlagbare Vorteile, nicht nur bei der bürgernahen Staatsorganisation, sondern auch bei der Dämpfung emotionaler Aufwallungen gegen „die da oben“.
Was würde geschehen, wenn der 17-jährige aus Nordafrika stammende Nahel M. nicht in Frankreich, sondern in Frankfurt erschossen worden wäre? Natürlich würde es ebenfalls eine Diskussion über Polizeigewalt geben – aber es bliebe eine Diskussion über einen Vorfall in Hessen.
Das hessische Innenministerium hätte zu tun mit einem schwierigen Thema. Der Bundeskanzler aber könnte und würde weiter seinen Amtsgeschäften nachgehen. Ein langweiliger Satz mit drei Wörter klingt plötzlich wie Musik: Polizei ist Ländersache. Aufgrund dieses Prinzips ist Deutschland unterwegs wie mit Stoßdämpfern.
Le Pen muss gar nichts mehr sagen
Auch in Deutschland entgleiten der Polizei manchmal die Dinge. Unvergessen sind zum Beispiel die Chaostage in Hannover (1995) und das G20-Desaster in Hamburg (2017). Diesen Ereignissen folgte aber kein nationaler Flächenbrand. Auch bei Entgleisungen, die in Berlin stattfinden, verliert nicht gleich ganz Deutschland die Fassung. Die Krawalle in der Silvesternacht 2022 in Neukölln zum Beispiel wurden zutreffend als Versagen der örtlichen Polizei gedeutet – anderswo in der Bundesrepublik führten die Meldungen aus Berlin eher zu Verwunderung als zu Hechelatmung.
Frankreich indessen erlebte fassungslos, wie der Tod eines Einzelnen in Paris landauf, landab Schlägereien, Plünderungen und Brandstiftungen triggerte. Zentralisierung plus Aufgeregtheit bedeutet: Auch Gewalt in der Provinz bekommt über Nacht den Anstrich des national Relevanten.
Einen eigenen verhängnisvollen Beitrag zur Aufgeregtheit dieser Tage leistet derzeit Jean-Luc Mélenchon, der zuletzt als Präsidentschaftskandidat der Linken knapp 22 Prozent der Stimmen holte: Er fordert jetzt die Auflösung der Polizei. Auch viele Grüne gießen Öl ins Feuer, indem sie auf „systemischen Rassismus“ der Uniformierten deuten.
So sorgt man dafür, dass die Wellen der Emotionalität höher und höher schlagen – und Marine Le Pen sich schon gar nicht mehr äußern muss, um Punkte zu sammeln.