Gehört halb Osteuropa zu Russland?Wie Putins Sowjet-Trauma Kriege entfacht
- Rückblickend ist Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine nicht überraschend.
- Immer wieder sprach Putin dem Land die Eigenständigkeit ab, sieht den Zerfall der Sowjetunion als historische Ungerechtigkeit.
- Folgt man seiner Argumentation, gehört beinahe halb Osteuropa im Grunde zu Russland und die Scharfmacher des Kremls drohen schon mit der Annexion der nächsten Länder.
Es war der 21. Dezember 2021, als Russlands Präsident Wladimir Putin im Staatsfernsehen von der großen „Tragödie“ erzählte. In einer Dokumentation äußerte er sich über das schmerzvollste Ereignis in seinem Leben, das ein regelrechtes Trauma in ihm auslöste – und ihn bis heute verfolgen sollte: den Zusammenbruch der Sowjetunion.
40 Prozent seines Gebiets habe Russland damals verloren, klagte Putin und spricht von der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Seitdem er an der Macht ist, hat er deshalb alles daran gesetzt, die inzwischen unabhängig gewordenen postsowjetischen Staaten wieder an sich zu binden – und wenn man dafür einen brutalen Krieg beginnen muss...
Demütigung der Russen
Lange hat der Westen nicht erkannt, was für ein Gefühl der Demütigung viele Russen und allen voran Kremlchef Putin angesichts des Verlusts ihres Großmachtstatus empfanden. „Es fiel den Russen schwer, sich damit abzufinden, dass sie fortan nicht mehr das natürliche Recht haben sollten, ihre Nachbarschaft zu dominieren und auch jenseits ihrer Grenzen Einfluss auszuüben“, schreibt die US-Politologin Angela Stent in ihrem Buch „Putins Russland“.
Laut der Expertin für russische Außenpolitik sei das Identitätsgefühl der Russen in den vergangenen Jahren immer stärker von einem „imperialen Sendungsbewusstsein“ geprägt worden, die Nachbarvölker paternalistisch zu regieren. Als die „kleinen Brüder“ werden die Ukrainer in Russland noch heute oft bezeichnet.
Verlust des Großmachtstatus kompensieren
Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 zerfiel auch die bisherige Vorstellung einer russischen Identität. Schon früh begann der Kreml über eine „russische nationale Idee“ nachzudenken, die den Verlust des Großmachtstatus kompensieren sollte. Aus Sicht Putins ist Russland auch heute noch Schutzmacht für die russischsprachigen „Landsleute“ im Ausland, sagte Wilfried Jilge dem RND. Laut dem Ukraine- und Osteuropaexperte am „Zentrum für Internationale Friedenseinsätze“ sprechen in den postsowjetischen Staaten wie der Ukraine zwar viele Menschen auch Russisch, sehen sich aber trotzdem eindeutig als Ukrainer.
„Der Kreml jedoch definiert „Landsleute„ mit hochflexiblen und willkürlich auslegbaren Kriterien, wie zum Beispiel einer mit dem russischen Staat gemeinsamen Geschichte, Sprache oder kulturellem Erbe bis hin zu Personen, deren direkte Verwandte mal auf dem Gebiet der Russischen Föderation oder Sowjetunion gelebt haben.“
Putin als Garant für die russische Welt
Nach dieser sehr weit gespannten und für außenpolitische Ansprüche sehr nützlichen Definition gelten Landsleute als Angehörige der „Russischen Welt“ – egal, ob das die Betroffenen auch so sehen oder nicht. Putin inszeniert sich als Garant für die Sicherheit der russischen Welt und nimmt für sich das Recht in Anspruch, überall zu intervenieren, wo Russen sich bedroht fühlen. Spinnt man dieses Narrativ weiter, könnte Putin halb Osteuropa beanspruchen. Daher wächst auch die Sorge, dass Russland nach der Ukraine nach Moldau, Georgien und anderen Staaten greifen könnte.
Erst in dieser Woche hat der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew eine mögliche Annexion von Georgien und Kasachstan angedeutet. Er bezeichnete sie auf dem Messenger-Dienst Telegram als „künstliche Staaten“ und verkündete, dass „alle Menschen, die in der einst großartigen und mächtigen UdSSR gelebt haben, bald wieder in Freundschaft zusammenleben werden“. Später behauptete Medwedew, dass sein Telegram-Account gehackt worden sei.
Ukrainern und Russen als “ein Volk„
Putin hat die Ansätze seiner imperialen Sichtweisen auf die Ukraine schon vor den ersten Angriffen und der Annexion der Krim 2014 propagiert. „Wiederholt sprach er in den letzten Jahren von Ukrainern und Russen als “einem Volk„, um schließlich in einem Aufsatz im August 2021 seine Thesen zur „Russischen Welt„ und zur Ukraine zusammenzufassen und zu eskalieren“, sagt Jilge. Damit habe der Kremlchef der Ukraine wie auch Belarus de facto das Recht abgesprochen, ein eigenständiger und souveräner Staat zu sein, in dem die Bürgerinnen und Bürger die zukünftige Entwicklung selbst bestimmen. „Er macht die Grenzen ihrer Staaten zu Grenzen zweiter Klasse.“
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Die russische Sprache ist eines der wesentlichen Identitätsmerkmale der „Russischen Welt“. Sie basiert laut Historiker Jilge zudem auf „traditionellen russischen Werten auf Basis der Russisch-Orthodoxen Kirche, auf historischen Mythen des vergangenen Imperiums und ist gegen den Westen und die Gültigkeit universeller Menschenrechte gerichtet“. Westliche Vorstellungen von Individualismus und uneingeschränkter Meinungsfreiheit sind den russischen Werten fremd. Putin sehe sich selbst als „Bollwerk“, ergänzt Politologin Stent, das sich Revolutionen und liberalen Ideen entgegenstellt.
Dass Putin mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht von seinen Plänen abrückt, halten Fachleute für unwahrscheinlich. Russlands Ziele, so warnt Historiker Jilge, messen sich nicht an den Legislaturperioden westlicher Politiker, sondern an größeren Zeithorizonten. „Wir müssen damit rechnen, dass die russische Führung von ihren imperialen Zielen nicht abrückt, solange es keine substanzielle Veränderung oder Regimewechsel in dem Land gibt.“