Stehen die Zeichen auf Eskalation?Die Stunde der rechten Strippenzieher
- Nach dem Abflauen der Corona-Demos setzen „Querdenker“ und Rechtsextremisten auf die nächste Krise: Die Unzufriedenheit vieler Menschen wegen Gasknappheit und Inflation. Wer profitiert davon?
„Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land“, dröhnt es von der Ladefläche eines kleinen weißen Lastwagens. Drumherum: Mitsingende und tanzende Menschen. Das Lied ist eigentlich ein harmloser Schlager der deutschen Band Dschingis Khan. Doch hier bekommt es eine neue Bedeutung. Denn es wird nicht auf einer Party gespielt, sondern auf einer Querdenker-Demonstration, die am vergangenen Samstag am Reichstagsgebäude in Berlin vorbeizieht.
Mehr als tausend Menschen sind zusammengekommen. Sie protestieren gegen die weitgehend abgeschafften Corona-Maßnahmen, gegen die ohnehin kaum umgesetzte Teilimpfpflicht – und gegen die Bundesregierung, das Parteiensystem und „die da oben“. Außerdem spielt bei den „Corona-Protesten“ längst auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Rolle.
Große Teile der Corona-Protestbewegung russlandfreundlich und Putin-nah
Wenige hundert Meter weiter vorne in der Demonstration schiebt ein Mann sein Fahrrad, an dem er eine Fahnenstange mit einer kleinen deutschen und einer großen russischen Fahne befestigt hat. Das stünde für die deutsch-russische Freundschaft, sagt er, die zurzeit mit Füßen getreten werde. Ein anderer Demonstrant hält ein Pappschild hoch, auf dem er ein sofortiges Ende der Russland-Sanktionen fordert. Eine Frau, die auf einem Schild die Freilassung des wegen Betrugs- und Geldwäscheverdachts verhafteten Querdenken-Gründers Michael Ballweg verlangt, hat sich die weiß-blau-rote russische Fahne um die Schultern gelegt.
Russlandfreundlich und Putin-nah waren große Teile der Corona-Protestbewegung ohnehin. Seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine wird diese Nähe noch deutlicher sichtbar. In den Telegram-Gruppen der Szene wird schnell klar, wer für schuldig befunden wird – die Ukraine, die USA, der Westen. Zu großen pro-russischen Demonstrationen konnten die Putin-Freunde bislang dennoch nicht mobilisieren. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen finde die Unterstützung der Ukraine durch die Bundesregierung Umfragen zufolge richtig.
Doch Politikerinnen und Szene-Beobachter fürchten eine von Rechtsextremen und Demokratiefeinden gesteuerte neue Protestbewegung im Herbst. Wenn das Gas knapp zu werden droht und die Energiepreise steigen, könnte auch die Protestbereitschaft der Deutschen massiv zunehmen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA können sich 44 Prozent der Deutschen vorstellen, gegen steigende Energiepreise auf die Straße zu gehen.
„Das gibt Extremisten die Chance, Menschen zu mobilisieren“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte dem „Handelsblatt“ Mitte Juli, es bestehe die Gefahr, „dass diejenigen, die schon in der Coronazeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oftmals Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs waren, die stark steigenden Preise als neues Mobilisierungsthema zu missbrauchen versuchen.“
Auch Thüringens Innenminister Georg Maier, ein Parteifreund Faesers, teilt diese Bedenken. Die erhöhten Gaspreise würden die Menschen hart treffen, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das gibt Extremisten die Chance, Menschen zu mobilisieren. Das müssen wir im Auge haben“, erklärte er.
Doch womit ist im Herbst und Winter wirklich zu rechnen? Stehen die Zeichen auf erneute Eskalation auf Deutschlands Straßen?
Angesammeltes Mobilisierungspotential
„Über die letzten Jahre und Jahrzehnte hat sich in Deutschland ein Mobilisierungspotential angesammelt, das nicht von einem einzelnen Thema oder einer konkreten Situation abhängig ist, sondern sich aus einer diffusen Unzufriedenheit speist“, erklärt Dieter Rucht, emeritierter Soziologie-Professor und einer der renommiertesten Protestforscher Deutschlands. „Diese Unzufriedenheit kann alle möglichen Themen aufgreifen, in der Summe zu beachtlichen Demonstrationen führen und eine große Störwirkung entfalten“, sagt Rucht.
Diese Störwirkung hat sich bei den Pegida-Protesten gezeigt und im Sommer 2020, als Zehntausende in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten – und ein beachtlicher Teil davon nicht weniger als den Sturz der demokratischen Strukturen Deutschlands herbeisehnte. Dass dieses Protestpotential nach den erneut aufgeblühten und vielerorts zunehmend von Rechtsextremen dominierten Corona-Protesten des vergangenen Winters nicht einfach verschwindet, daran hatten Beobachter der Szene keinen Zweifel.
Protestpotential verschwindet nicht einfach
Auch Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), warnte bereits im März in einem Interview mit dem RND vor einer Wiederkehr der Protestbewegung mit neuen Themen. Einem großen Teil gehe es „offensichtlich weniger um die einzelnen Corona-Maßnahmen als um die Frage, ob dieser demokratische Rechtsstaat das richtige System ist“, sagte Münch.
„Wir gehen davon aus, dass diese Personen sich ein neues Feld suchen werden – denkbar wären zum Beispiel Themen wie der Klimawandel, je nachdem, welche Einschränkungen oder Kostensteigerungen damit verbunden sein werden“, prognostizierte der oberste deutsche Kriminalbeamte. Das BKA rechne damit, dass bei neuen gesellschaftlichen Herausforderungen auch neue Höchststände im Bereich der politisch motivierten Kriminalität bevorstehen.
Voraussetzungen denkbar gut
Mit einer hohen Inflation, Energiepreisen, die in den kommenden Monaten in schmerzliche Höhen steigen werden und einer noch immer nicht überstandenen Pandemie sind die Voraussetzungen für eine neue Protestwelle im Herbst und Winter deshalb denkbar gut. Dass sich die Warnungen von Politik und Sicherheitsbehörden – und die Hoffnungen rechter Ideologen – tatsächlich bewahrheiten, ist trotzdem noch nicht ausgemacht.
„Unzufriedenheit und selbst heftige Belastungen übersetzen sich nicht automatisch in Protest“, gibt Dieter Rucht zu bedenken. Dafür bedürfe es zusätzlicher Bedingungen. „Ein Problem muss als menschengemacht wahrgenommen und es müssen Schuldige ausgemacht werden“, erklärt er. Zudem brauche es Gruppen, die Proteste initiieren, koordinieren und lenken. „Bei den zu Mobilisierenden muss außerdem die Erwartung vorhanden sein, dass der Protest eine bestimmte Größenordnung erreicht und etwas bewegen kann. Wenn das Gefühl verbreitet ist, dass Protest ohnehin aussichtslos ist, lassen sich zumindest keine Massen gewinnen.“
Prognosen pure Spekulation
Eine Vorhersage will Rucht deshalb nicht abgeben. „Prognosen über kommende soziale Unruhen sind pure Spekulation“, sagt der Protestforscher. Nach der Wirtschaftskrise 2008 und 2009 hätten diverse Personen und Institute in Deutschland bevorstehende soziale Unruhen prognostiziert. Am Ende kam es anders. Die Unruhen blieben aus.
„Proteste sind an sich nichts schlechtes, sondern gehören zu einer demokratischen Gesellschaft dazu“, gibt die Sozialpsychologin Pia Lamberty vom Berliner Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) außerdem zu bedenken. „Sie können ein Korrektiv zum Handeln der Regierung sein, etwa wenn soziale Faktoren nicht angemessen berücksichtigt werden.“ Gefährlich werde es dann, wenn Rechtsextreme solche Proteste vereinnahmen oder selbst starten.
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Und genau darauf bereiten sich die Ideologen längst vor – teilweise ganz offen. In einem kürzlich veröffentlichten Podcast des rechtsextremen Vereins Ein Prozent diskutieren Philip Stein und Benedikt Kaiser über Strategien und Chancen für eine möglicherweise kommende Protestwelle. Beide sind Vertreter eines sich intellektuell gebenden Rechtsextremismus, werden der „Neuen Rechten“ zugeordnet.
Sie hoffen auf dezentrale Proteste, ähnlich wie die euphemistisch als „Spaziergänge“ bezeichneten Corona-Demonstrationen des vergangenen Winters. Und sie warnen davor, Proteste gleich öffentlich zu vereinnahmen und ihnen einen rechten Stempel aufzudrücken. Stattdessen solle man lokalen Protestorganisatoren lieber im Hintergrund Beratung und Unterstützung anbieten. Durch Energiepreisproteste könnte sich ein „Gelegenheitsfenster“ für rechtsextreme Gruppen öffnen, so ist ihre Hoffnung. Gelegenheit zur Agitation für ihre Sache, für ihren Kampf gegen das politische System der Bundesrepublik.
„Konvergenz der Krisen“
Die Devise: Je schlechter es dem Land geht, desto mehr haben sie zu gewinnen. Benedikt Kaiser spricht von einer vorteilhaften „Konvergenz der Krisen“, die im Herbst zu erwarten sei. Er will den perfekten Sturm. Coronakrise, Energiekrise und steigende Inflation würden „potenziell eine neue, dichtere, engere, schlimmere Krise formieren“, hofft er. Darin bestehe ein „ungeahntes Potential“. „Auch die AfD, die in der Pandemie nicht immer wusste, wie sie sich positionieren soll, hat das Thema der steigenden Energiepreise schnell für sich entdeckt, um sich als Stimme des Volkes auszugeben“, beobachtet Pia Lamberty.
Einen Erfolg rechtsextremer Mobilisierungen hält jedoch auch die Sozialpsychologin nicht für ausgemacht. „Ein wichtiger Faktor ist, ob die soziale Gerechtigkeit von der Politik bei ihren Maßnahmen genug mitgedacht wird“, erklärt sie. „Eine weitere Frage ist, ob demokratische Räume geschaffen werden, in denen Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme äußern können.“ Es sei wichtig, sich auf Gefahren vorzubereiten. „Aber dabei wird von der Politik viel zu selten betont, wie man dem demokratisch etwas entgegensetzen kann“, beklagt Lamberty. Ihre Botschaft: „Es liegt in der Hand der Gesellschaft, was im Herbst passiert.“