„Haben fürchterlichen Krieg begonnen“Russische Soldaten stellen sich gegen Putin
Moskau – Fast ein halbes Jahr Krieg und über 44.000 gefallene russischen Soldatinnen und Soldaten, wie ukrainische Quellen berichten, – um die innere Verfasstheit der russischen Armee scheint es nicht gut zu stehen. Das belegen veröffentlichte Soldatenbriefe, aber auch die Aussagen von russischen Kämpfern, die ihre Erlebnisse in Buchform aufgeschrieben haben oder sich Medien anvertrauen.
Die Kritik am Krieg, auch wenn sie sich auf rein technische Details bezieht, kommt auch von ganz oben. So sagt Ruslan Puchow, seit 2012 Mitglied des Expertenrates der Regierung der Russischen Föderation, in einem Interview mit der russischen Beratungsfirma Prisp: „Die Methoden des Ersten Weltkriegs funktionieren nicht“. Das in russischen TV-Talkshows zur „Selbstbeweihräucherung“ gezeichnete Bild eines ukrainischen „Volkssturms“ irgendwo in Lwiw, „bewaffnet mit Maxim- oder Degtjarow-Maschinengewehren“ sei falsch. Sein Fazit: „Die Ukrainer lernen sehr schnell, und sie haben bewiesen, dass sie sehr talentierte Kämpfer sind.“
Kritik am Krieg: ehemaliger Fallschirmjäger schreibt Buch
Pawel Filatiew, ehemaliger russischer Fallschirmjäger, hat mittlerweile Russland verlassen. Zuvor hat er etwas getan, was sich viele seiner Kameradinnen und Kameraden nicht trauen: Er hat mit Putins Krieg, an dem er von der ersten Sekunde an an vorderster Front gezwungenermaßen mitwirken musste, brutal abgerechnet – in Buchform.
Weil ihm wegen Hochverrats eine lange Haftstrafe droht, hat er auf verschlungenen Pfaden seine Heimat verlassen. „Ich habe keine Angst, im Krieg zu kämpfen. Aber es muss sich rechtmäßig anfühlen. Das, was ich tue, muss richtig sein“, sagte Filatjew dem britischen „Guardian“. Er glaube, dass dieser Krieg auch scheitern wird, „weil wir Russen nicht das Gefühl haben, dass das, was wir tun, richtig ist.“
„Wie Elende versuchten wir, nur zu überleben“
Seine Memoiren – nach den taktischen Markierungen auf russischen Armeefahrzeugen „ZOV“ benannt – sind der erste detailliertere Bericht eines russischen Soldaten, der an der Invasion der Ukraine teilnahm. „Es ist sehr wichtig, dass sich jemand als Erster zu Wort meldet“, sagte Vladimir Osechkin, so der Leiter des Menschenrechtsnetzwerks Gulagu.net gegenüber dem „Guardian“. Er half Filatiew Anfang der Woche dabei, Russland zu verlassen. „Und es öffnet eine Büchse der Pandora.“
Filatiew beschreibt, wie sein Luftangriffsregiment der 56. Garde Ende Februar von der Krim aus von einem Raketenhagel begleitet auf das ukrainische Festland stürmte, ohne konkrete Logistik oder Ziele – und ohne Ahnung. „Ich habe Wochen gebraucht, um zu verstehen, dass es überhaupt keinen Krieg auf russischem Territorium gab, sondern dass wir gerade die Ukraine angegriffen hatten“, sagte er. „Wie Elende versuchten wir, nur zu überleben“, berichtet er, „die meisten von uns hatten bereits einen Monat auf Feldern zugebracht“. Also holte man sich das Nötigste von den Ukrainerinnen und Ukrainern.
Gezielte Demütigung durch eigene Führung
Gezielte Demütigung durch die eigene FührungFilatiew glaubt, dass russische Soldaten von ihrer Führung gezielt „entwürdigt“ werden, um aus ihnen ideale Werkzeuge zu machen. „Die meisten Leute in der Armee sind unzufrieden mit dem, was dort vor sich geht, sie sind unzufrieden mit der Regierung und ihren Kommandeuren, sie sind unzufrieden mit Putin und seiner Politik, sie sind unzufrieden mit dem Verteidigungsminister, der nie gedient hat“, schreibt er im Buch.
Und immer wieder komme es vor, dass sich russische Soldaten selbst verstümmelten – um dem Krieg zu entkommen und eine Auszahlung von 50.000 Dollar zu erhalten. Präsident Wladimir Putin hatte angekündigt, verletzte Soldaten erhielten eine Entschädigung von 3 Millionen Rubel (50.000 Dollar), was dem entspricht, was ein durchschnittlicher russischer Arbeiter in vier Jahren verdienen würde.
Hunderte Beschwerdebriefe – gerichtet an das russische Militär
Erfahrungen, die sich auch mit anderen russischen Quellen decken. Die investigative russische Nachrichtenseite „The Insider“ hat Hunderte Beschwerdebriefe veröffentlicht, gerichtet an das russische Militär. „Ich verstehe, dass das die Armee ist“, schreibt zum Beispiel ein Elternteil an die Militärstaatsanwaltschaft, „aber das ist kein Grund, unsere Kinder wie Hunde zu behandeln.“
Da wird berichtet, dass Wehrpflichtige von Kommandeuren geschlagen worden seien, um sie dazu zu zwingen, einen Vertrag zu unterschreiben. So schreibt ein Vater von seinem 20-jährigen Sohn, der unter falschen Vorwänden stationiert worden sein soll: „Er sagte, sie nehmen ihn zum Üben mit, aber es stellte sich heraus – in den Krieg. Im Moment wird er in Richtung Ukraine transportiert.“
Schwere Vorwürfe gegen Kommandeure
An anderer Stelle wird von dem emotionalen Druck berichtet, das „Mutterland zu verteidigen“. Die Briefe enden oft mit der Bitte um Informationen über die jungen Soldatinnen und Soldaten. „Bitte teilen Sie mir den Verbleib meines Kindes mit“, schreibt ein Elternteil. Den russischen Gesetzen zufolge ist es eigentlich verboten, Wehrpflichtige mit geringem Training in Einsatzgebiete zu schicken. Dennoch gibt es immer wieder Berichte darüber, dass im Ukraine-Krieg genau das passiert. Den Beschwerdebriefen zufolge geschieht dies durch Täuschung, Druck und Gewalt.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und es kommt auch immer wieder zu offener Rebellion: So sollen Soldatinnen und Soldaten der Miliz der im Westen nicht anerkannten prorussischen Republik Luhansk jüngst den Kampf um Donezk verweigert haben, berichtet das Institute for the Study of War (ISW). So gebe es Videos, die zeigen sollen, wie Soldaten des Bataillons 2740 bekundeten, nicht kämpfen zu wollen.
140 Soldaten in Gefangenschaft
Der „Guardian“ berichtet von einer anderen Gruppe russischer Soldaten, die ihre Kommandeure beschuldigen, sie inhaftiert zu haben, weil sie sich weigerten, am Krieg teilzunehmen. „Wir haben bereits eine Liste von 70 russischen Soldaten, die als Gefangene festgehalten wurden. Insgesamt wurden etwa 140 Soldaten festgehalten“, berichtet Maxim Grebenjuk, ein Anwalt, der die in Moskau ansässige Interessenvertretung „Militärischer Ombudsmann“ leitet.
„Als Konsequenz der meiner Meinung nach taktischen und strategischen Fehler meiner Kommandeure (…) und ihrer völligen Missachtung von Menschenleben (…) habe ich die Entscheidung getroffen, die Militäroperation nicht fortzusetzen“, lautet das Statement eines der Soldaten mit dem Pseudonym Wladimir.
Befehle, Männer zu erschießen
Ein anderer russischer Soldat, der 21-Jährige Daniil Frolkin, hat im Investigativmagazin „Istories“ berichtet, wie er im März in der Ukraine einen Zivilisten erschossen hat – auf Befehl seiner Kommandeure, deren Namen er nennt. Frolkin soll Teil der berüchtigten 64. motorisierten Infanteriebrigade sein, die zu Beginn der Invasion im Februar bis in den Kiewer Vorort Butscha vordrang – und allein dort mindestens 419 Zivilisten tötete. Frolkin selbst war im Dorf Andriivka eingesetzt, nicht weit von der Grenze zu Belarus, erklärt er im Interview.
„Ich, Daniil Andrejewitsch Frolkin, gestehe alle Verbrechen, die ich in Andrijwka begangen habe: dass ich Zivilisten exekutiert habe, dass ich Bürger bestohlen habe, dass ich deren Telefone beschlagnahmte.“ Frolkin und seinen Kameraden sei befohlen worden, drei Männer zu erschießen, die angeblich russische Positionen an die ukrainische Armee verraten hätten. Frolkin: „Ich sage ihm, er soll weitergehen. Er geht vorwärts. Ich sage ihm: ‚Auf die Knie.‘ Und ich schieße ihm einfach in den Kopf.“
Durch Geständnis weitere Einsätze verhindern
Weiter berichtet der 21-Jährige, „dass ich für all diese Informationen eingesperrt werden kann“. „Nicht einmal dafür, dass ich diesen ganzen Müll in der Ukraine gemacht habe, sondern für die Informationen über den Befehl.“ Seine Hoffnung ist, dass er durch sein Geständnis helfen kann, seine Kameraden zu retten – denn seine Einheit solle zurück an die Front in die Ukraine geschickt werden. Mit dem Geständnis glaubt er, das zu verhindern. Frolkin: „Und ich gestehe, dass unser Kommandeur sich kein bisschen für die Soldaten oder für irgendeinen Kämpfer der Infanterie interessiert.“
Dass es in Russland längst eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit diesem Krieg gibt, der nicht so heißen darf, wird auch vom Kreml nicht mehr ignoriert. Der Unmut über getötete, verstümmelte oder verschollene Angehörige darf neuerdings sogar auf die Moskauer Straßen getragen werden – aber anders als erwartet: Empörte junge Menschen skandierten Parolen des Zorns und hielten Bilder hoch – Bilder von Menschen, die Gliedmaßen verloren hatten.
Einzelne junge Frauen und Männer reckten die Fäuste in die Luft, heizten den Protestierenden mit zorngeröteten Gesichtern noch ein. Kein Polizist war zu sehen in dem Land, in dem sonst das Halten eines weißen Blattes Papier für eine Inhaftierung genügt. Warum auch, die Gruppe protestierte vor der britischen und der US-Botschaft gegen den „imperialistischen Krieg“, vor allem aber gegen westliche Waffenlieferungen an ein Land, welches ihr Land überfallen hat. Verquere Logik in Putins Reich. (rnd)