„Immenses Leid“Menschen mit Depressionen geht es in der Pandemie psychisch schlechter
Menschen, die an Depressionen leiden, geht es durch die Corona-Maßnahmen deutlich schlechter. Das haben Untersuchungen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ergeben. Im Interview fordert Ulrich Hegerl, der Vorsitzende der Stiftung, die negativen Auswirkungen der Maßnahmen systematisch zu erfassen.
Herr Hegerl, wie geht es den Menschen nach zwei Jahren Pandemie? Machen uns die Corona-Maßnahmen auf Dauer psychisch krank?
Ulrich Hegerl: Zumindest zu Depressionen, der häufigsten und schwersten psychischen Erkrankung, liegen uns einige Daten vor. Hier gilt es zu unterscheiden: Die Pandemie und die Gegenmaßnahmen sind für viele Menschen eine Quelle von Stress, Sorgen, gedrückter Stimmung und Ängsten.
Das ist aber in den allermeisten Fällen einfach eine Reaktion auf die schwierigen Lebensumstände, die nicht krankhaft ist. Sie führt in der Regel nicht zu einer depressiven Erkrankung.
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat dazu vor und während der Pandemie eine repräsentative Bevölkerungsumfrage durchgeführt, an der über 5000 Erwachsene teilgenommen haben.
Der Anteil derjenigen, bei denen nach eigenen Angaben bereits einmal eine Depression diagnostiziert worden war, lag demnach in den vergangen Jahren relativ konstant zwischen 21 und 23 Prozent.
Es war keine deutliche Steigerung zu beobachten. Was wir aber beobachten konnten: Den über fünf Millionen Menschen, die bereits unter einer behandlungsbedürftigen Depression leiden, geht es in Folge der Maßnahmen deutlich schlechter.
Welche Zahlen liegen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hierzu vor?
Bei unserer Befragung für das Deutschland-Barometer Depression im Herbst 2021 gaben 72 Prozent der Menschen, die sich in einer depressiven Krankheitsphase befanden, an, dass sich ihre Erkrankung im letzten halben Jahr durch die Corona-Maßnahmen stark verschlechtert hatte.
29 Prozent von ihnen hatten einen Rückfall erlitten, bei 35 Prozent hatte die Schwere der Depression zugenommen und 20 Prozent hatten Suizidgedanken entwickelt. Wer selbst nicht betroffen ist, kann sich manchmal keine Vorstellung davon machen, wie groß das Leid von Menschen mit Depressionen ist.
Wie ernst die Depression als Erkrankung zu nehmen ist, zeigt sich aber daran, dass Menschen mit dieser Diagnose im Schnitt knapp zehn Jahre weniger leben.
Es sind also vermutlich nicht mehr Menschen neu an Depressionen erkrankt, aber denjenigen, die betroffen sind, geht es deutlich schlechter. Warum ist das so?
Entscheidend ist die Veranlagung. Liegt diese nicht vor, dann führen auch äußere Belastungen wie jetzt durch Corona nicht zu einer depressiven Erkrankung. Depressionen sind eigenständige Erkrankungen und deren Entstehung hängt weniger von äußeren Belastungsfaktoren ab, als oftmals vermutet wird.
Auf welche Weise genau haben die Corona-Maßnahmen das Leben von Menschen mit Depressionen noch schwieriger gemacht?
Zum einen berichteten in der Befragung viele Betroffene, dass sich die Qualität der medizinischen Versorgung seit Beginn der Corona-Maßnahmen deutlich verschlechtert hat.
So wurden stationäre Behandlungen abgesagt, Ambulanzen haben ihr Angebot zurückgefahren, Facharzt- und Psychotherapietermine sind ausgefallen, genau wie Selbsthilfegruppen. Manche Patienten wurden auch so in Panik versetzt, dass sie aus Angst vor einer Ansteckung selbst Termine beim Psychiater oder Psychotherapeuten abgesagt haben.
Während der ersten Lockdowns wurden etliche medizinische Behandlungen abgesagt. Hat sich denn die Versorgungslage in zwei Jahren Pandemie nicht verbessert?
Leider ist das Versorgungsangebot auch jetzt noch reduziert. Im September vergangenen Jahres berichteten uns immer noch 23 Prozent der Betroffenen, dass in einer depressiven Krankheitsphase Facharzttermine ausgefallen sind, 17 Prozent berichteten von ausgefallenen Terminen beim Psychotherapeuten und 18 Prozent gaben an, überhaupt keinen Termin zu bekommen.
Insgesamt haben 48 Prozent der Betroffenen in einer depressiven Phase eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung erlebt.
Noch wichtiger sind drei Folgen der Corona-Maßnahmen auf den Alltag, die sich ganz speziell bei depressiv Erkrankten negativ auswirken: Viele gaben an, sich weniger zu bewegen. Sport ist aber eine unterstützende Behandlung bei Depression. Weiter berichtet die Mehrheit der Betroffenen, sich vermehrt ins Bett zurückzuziehen.
Lange Bettzeiten und Schlaf wirken sich, anders als oft gedacht, bei einer Depression meist negativ aus und Schlafentzug, wie er in Kliniken angeboten wird, wirkt zur Überraschung vieler Betroffener antidepressiv. Die Bettzeit eher zu reduzieren als auszudehnen, wäre bei vielen eine sinnvolle Empfehlung, die aber bei einer Depression oft nur schwer zu befolgen ist.
Als drittes ist ein unstrukturierterer Tagesablauf mit vermehrtem Grübeln zu nennen, über den viele berichten. Wir konnten zeigen, dass insbesondere die Betroffenen eine Verschlechterung zeigten, die über diese drei Folgen der Corona-Maßnahmen berichteten.
Welche Rolle spielt die Einschränkung der sozialen Kontakte?
Das ist bezüglich depressiver Erkrankungen vielleicht nicht unbedingt der wichtigste Punkt. Die Einschränkung der sozialen Kontakte muss nicht gleich eine Depression auslösen, Menschen mit Depression neigen ohnehin oft dazu, ihre sozialen Kontakte herunterzufahren.
Negativ auswirken können sich Kontakteinschränkungen trotzdem: Es sind nämlich oft Freunde und Angehörige, die die Betroffenen dazu motivieren, sich in Behandlung zu begeben. Wenn es weniger soziale Kontakte gibt, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass das geschieht.
Viele Experten warnen speziell bei Kindern davor, wie schädlich der Verlust von sozialen Kontakten und Schulschließungen für deren psychisches Wohlergehen ist.
Ohne Zweifel ist es für Kinder schädlich, wenn sie nicht raus und nicht miteinander spielen dürfen, das ist eine Katastrophe. Es ist auch für alle Kinder ungesund, wenn sie noch länger vor dem Bildschirm sitzen als ohnehin schon.
Gerade Kinder in sozial schwächer gestellten Familien haben es während Lockdowns und Schulschließungen schwer, weil die Eltern oft nicht die Möglichkeit haben, sich in so einer Situation ausreichend mit ihnen zu beschäftigen.
Was ist über einen Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen und anderen psychische Krankheiten bekannt?
Wir wissen sehr wenig darüber, wie sich die Maßnahmen auf psychische Krankheiten insgesamt ausgewirkt haben. Es gibt ja viele, ganz unterschiedliche Formen von psychischen Erkrankungen. Und es ist etwas völlig anderes, ob jemand nun unter einer Schizophrenie, einer Bulimie oder einer Phobie leidet.
Bei Menschen mit Angststörungen zum Beispiel hat die Realangst vor dem Coronavirus zu Beginn der Pandemie wahrscheinlich sogar die krankhaften Ängste verdrängt und sich das Krankheitsbild also kurzzeitig vielleicht sogar verbessert.
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Menschen, die an einer Agoraphobie leiden, einer Angst vor Menschenmengen und an öffentlichen Orten, empfinden es wohl sogar zunächst als Entlastung, wenn sie im Homeoffice arbeiten können oder nicht mehr auf Dienstreisen gehen müssen.
Auf die Dauer ist aber ein Rückzug in die eigenen vier Wänden für sie sehr schädlich. Die Störung wird dadurch nur schlimmer und es fällt schwer, sich irgendwann wieder unter Menschen zu trauen.
Was gilt es zu tun, um Menschen mit psychischen Krankheiten und die psychische Gesundheit aller in der Pandemie zu schützen?
Unsere Daten legen nahe, dass durch die Folgen der Corona-Maßnahmen bei Depressionspatienten immenses Leid ausgelöst wurde. Ich kann nicht erkennen, dass solche negativen Folgen, die es auch in anderen Feldern der Medizin gibt, ausreichend systematisch erfasst werden.
Das sollte aber durch ein interdisziplinäres Expertengremium geschehen, in dem neben Medizinern und Epidemiologen auch Psychologen und Soziologen vertreten sein müssen. Nur so können wir sicher die Maßnahmen optimieren und ausschließen, dass nicht mehr Leid und Tod verursacht als verhindert wird.