Kommentar zum BürgergeldKritik an „sozialer Hängematte“ zeugt von totaler Unkenntnis
Es ist fast zwanzig Jahre her, dass Gerhard Schröder die Reformen der Agenda 2010 und damit auch Hartz IV verkündet hat. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, sagte der damalige Kanzler. Es waren Reformen, die in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit das Land vorangebracht haben. Sie waren aber, gerade im Umgang mit Arbeitslosen, von teils übertriebenen Härten gekennzeichnet.
Die Welt hat sich seitdem erheblich verändert. Trotz Corona-Pandemie und trotz der Energiekrise infolge des russischen Kriegs in der Ukraine ist Arbeitslosigkeit nicht das zentrale Problem in Deutschland. Die große Herausforderung jetzt und in kommenden Jahren ist vielmehr der Fachkräftemangel.
Deshalb ist es richtig, dass die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP mit der geplanten Einführung des Bürgergelds eine Reform auf den Weg bringt, die Aus- und Weiterbildung von Menschen stärkt. Wenn jemand länger arbeitslos ist, soll künftig nicht mehr die Maßgabe sein: „Wir vermitteln Dich in irgendeinen Job, komme, was wolle.“ Stattdessen soll es nach den Plänen von Arbeitsminister Hubertus Heil darum gehen, den Menschen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen, die langfristig trägt. Das ist ein zentraler Wendepunkt im Denken in den Jobcentern. Ob es am Ende ein echter Systemwechsel ist, muss aber erst die Erfahrung in der Praxis zeigen.
Fördern und fordern – das war der Leitgedanke, mit dem die rot-grüne Bundesregierung damals Hartz IV eingeführt hat. Nur dass in der Wirklichkeit das Fördern viel zu kurz kam. Beim Bürgergeld ist der Vorrang für Qualifizierung der Kern der Reform – auch wenn öffentlich viel mehr über die Höhe des Regelsatzes und die Frage der Sanktionen diskutiert wird. Das Ziel muss sein, Menschen so zu unterstützen, dass sie nicht mehr von staatlicher Hilfe abhängig sind.
Kritik von Arbeitgebern an Erhöhung des Hartz-IV-Satzes unberechtigt
Wenn wichtige Arbeitgebervertreter behaupten, die Reform setze Anreize, sich in die soziale Hängematte zu legen, zeigt dies eine bemerkenswerte Unkenntnis der Lebenssituation von armen Menschen in Deutschland. Oder aber, was schlimmer wäre, von Gefühlskälte gegenüber der Situation dieser Menschen. 502 Euro Regelsatz: davon ist weiter nur das Notwendigste möglich – und ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe. Dass beim Regelsatz jetzt auch künftige Preissteigerungen einbezogen werden soll, ist angesichts der hohen Inflation dringend notwendig.
Wenn die Entwicklung im kommenden Jahr schlechter verläuft als prognostiziert, könnten weitere Hilfen notwendig sein. Gleichzeitig ist klar: Auch Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen werden zusätzliche Hilfen brauchen. Es ist moralisch fragwürdig, in der Debatte um Entlastungen Langzeitarbeitslose und jene, die für wenig Geld arbeiten gehen, gegeneinander auszuspielen. Beide brauchen Hilfe – auch wenn das am Ende höhere Belastungen für Menschen mit hohen Einkommen bedeutet.
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Bürgergeld statt Hartz IV: Das ist eine Chance, die Stigmatisierung der Betroffenen abzubauen, aber auch Abstiegsängste in der Mitte der Gesellschaft zu vermindern – zumal im Fall der Arbeitslosigkeit der eigene Wohnraum und das Ersparte etwas länger geschont werden. Mitwirkungspflichten und Sanktionen werden nicht abgeschafft. Das ist auch richtig so, denn es geht um das Geld der Steuerzahler.
Die Reform von Minister Heil und der Ampelkoalition hat das Potenzial das Leben von Menschen zu verbessern. Damit wird die Agenda 2010 nicht beerdigt, aber nach 20 Jahren entscheidend weiterentwickelt. Schröder selbst hat gesagt, die Reformen der Agenda 2010 seien nicht die zehn Gebote. Niemand, der daran mitgearbeitet habe, solle sich als Moses begreifen.