Kommentar zur Deutschen EinheitDie Krise macht überwundene Probleme wieder sichtbar
Ganz ohne Erinnerungskitsch kam die Feierstunde zum 32. Jahrestag der Wiedervereinigung zwar nicht aus, aber aus den politischen Reden zum Stand der Einheit ist er inzwischen weitgehend gewichen. Und das ist auch gut so. Denn das heißt immerhin, dass die Zeiten vorbei sind, in denen in den Feiertagsreden salbungsvoll das Zusammenwachsen beschworen wird, während man beim Blick auf Wahlergebnisse, ostdeutsche Straßen und westdeutschen Alltag vor allem Entfremdung bemerkt.
Ost-West-Unterschiede nicht per se ein Problem
Gut ist auch, dass das die meisten Politiker die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen nicht mehr per se als Problem darstellen, das seine Wurzeln in der Teilung hat. An diesem Nationalfeiertag war jedenfalls die jüngere Einsicht zu hören, dass vor allem die Neunzigerjahre die heutige Sicht prägten, die die einen Landsleute von den anderen pflegen: Im Westen las man den Osten entlang von Begriffen wie DDR-Erbe, Stasi und Undankbarkeit, im Osten fühlte man sich klein- und schlechtgeredet.
Die Frage ist nur: Ist nun schon alles besser, nur weil die Klischees überwunden sind und die Hauptrednerin der Einheitsfeierlichkeiten, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die Revolutions- und Umbruchleistungen der Ostdeutschen würdigte und die Westdeutschen aufrief, von ihnen zu lernen?
Natürlich nicht. Gerade wegen der aktuellen Krise, mit all ihrem sozialen Sprengstoff, dem Streit über den Umgang mit Russland und mit im Osten fest etablierten Rechtsaußen-Parteien herrscht im Westen erneut Stirnrunzeln.
Wieder blickt der Westen entsetzt auf Demonstrationen gegen die Bundesregierung, wo Russland-Fahnen wehen, auf Ministerpräsidenten, die vermeintlich russlandfreundliche Töne anschlagen, und auf Umfragen, in denen eine Mehrheit im Osten die Sanktionen gegen Russland ablehnt. Schon jetzt kann man davon ausgehen, dass in den kommenden kalten Monaten noch viel Trennendes zwischen Ost und West sichtbar wird.
Alte Probleme wieder präsent
Allerdings springt zu kurz, wer deshalb schon wieder die Ostdeutschen der gemeinschaftlichen Psychoanalyse unterziehen will, nach dem Motto: Wie kann es sein, dass laut jüngsten Umfragen nur 39 Prozent von ihnen mit der Demokratie zufrieden sind? Dass in Thüringen, wo die Einheitsfeierstunde stattfand, die rechtspopulistische AfD die stärkste Kraft ist und noch für den Abend der Feierlichkeiten wieder lautstarke Proteste angekündigt waren?
Und das, obwohl der Osten sich dem Westen doch nun wirklich fast angeglichen hat, sogar in der Wirtschaftskraft, wozu im Osten neuerdings Milliardeninvestoren wie Tesla und Intel beitragen; aber auch Lebenserwartung und Arbeitslosigkeit sind nahezu gleich, im nächsten Jahr erreichen sogar die Ostrenten das Westniveau.
Was läuft falsch im ganzen Land?
Die bessere Frage ist leider: Was läuft falsch im ganzen Land? Denn dieselben Umfragen zeigen auch im Westen eine Abwendung von demokratischen Institutionen. Die Zufriedenheit liegt gerade einmal zehn Prozentpunkte höher - und das ohne das Erbe der DDR, der Neunzigerjahre und dem womöglich seit jeher anders geprägten Demokratiebegriff.
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Klar ist nur, dass die aktuelle Krise nicht bei allen Bürgern das Beste hervorbringt und dass es derzeit leicht ist, Ängste, Unzufriedenheit und Meinungsverschiedenheiten aufzuwiegeln und für politische Zwecke zu instrumentalisieren.
Der gewandelte Blick auf die deutsche Einheit gibt aber auch Grund zum Optimismus: Er beweist, dass die Gesellschaft und die Politik lernfähig ist. Dass die 30 Jahre anhaltende Debatte nicht nur zu Frust und Abschottung geführt hat, sondern auch zu einem Umdenken. Gut wäre, wenn künftig beide Seiten bereit wären, dem anderen entgegenzukommen: West wie Ost.