Landesweite ProtesteLäutet der Fall Nawalny das Ende der Ära Putin ein?
Moskau/Berlin – Eines muss man Alexej Nawalny lassen: mutig ist er! Wie sich der 44-jährige Rechtsanwalt als Oppositioneller ins Zeug wirft, das trotzt selbst den Kritikern im eigenen Land einen gewissen Respekt ab. Wie kein anderer zuvor, bedient er die digitale Klaviatur, um Machtmissbrauch und Korruption anzuprangern und macht dabei auch nicht vor dem Zaren halt. Da findet der ältere Donald Trump (74), der sich via Kurznachrichtendienst Twitter selbst als Medienmaschine inszenierte, seinen Meister, denn Nawalny treibt den Polit-Entertainment-Journalismus auf eine Spitze, die der US-Präsident nicht erreichte. Aber ist das genug, um das russische Reich in seinen Grundfesten zu erschüttern?
Die Vergleiche Nawalnys mit den großen Dissidenten der alten Zeiten hinken. Sein Wirken ist weder mit dem des Atomphysikers Andrei Sacharow (1921-1989) noch mit dem des großen Schriftstellers Alexander Solschenizyn (1918-2008) zu vergleichen. Zwar beklagen auch heute in Moskau viele Intellektuelle eine „bleierne Zeit„ wie in der neostalinistischen Ära von Staats- und Parteichef Leonid Breschnew (1906-1982), aber eine Rebellion, wie sie sich Nawalny „erlaubt„ und Demonstrationen, wie sie am Wochenende in vielen russischen Städten zu sehen waren, hätte es damals nicht gegeben. Sacharow, der 1968 den reformkommunistischen Prager Frühling unterstützte und 1979 den Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan verurteilte, wurde verhaftet und ohne Gerichtsverfahren nach Gorki verbannt, eine Stadt an der Wolga, die damals für Ausländer verboten war. Ob die Strahlkraft des von Dissidenten geschätzten BBC-Rundfunks bis dorthin reichte, ist nicht bekannt. Vom Internet als permanente Informationsquelle konnte keine Rede sein.
Solschenizyn verschwand 1945 wegen einer Kritik an Stalin in einem Brief an einen Freund für acht Jahre im Straflager und danach bis zum Tod des „großen Führers„ in der Verbannung. 1974 fiel dem KGB das Manuskript seines monumentalen Hauptwerks „Archipel Gulag“ in die Hände, weshalb er erneut verhaftet und schließlich in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde. Eine triumphale Rückkehr in Begleitung einer livestreamenden Journalisten-Entourage wäre Solschenizyn nicht im Traum eingefallen und vom Regime auch nicht geduldet worden.
Die russische Botschaft in Berlin verbreitete gestern via Messengerdienst Telegramm einen 30-Sekunden-Videoclip von Präsident Wladimir Putin, in dem dieser unterstrich, „alle Menschen haben das Recht, sich politisch zu betätigen und ihre Meinung öffentlich zu äußern - aber nur im Rahmen der Gesetze.“ Und er fügte hinzu, in diesem Gesetzesrahmen müssten auch die Strafverfolgungsbehörden agieren.
Ebenfalls über Telegramm verbreitete die in Moskau ansässige Menschenrechtsorganisation OWD-Info Video-Clips, die zeigen, wie Polizisten am Wochenende mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten vorgingen. In einer Szene fleht eine junge Frau weinend einen Milizionär an, ihren Freund nicht zu verhaften. Eine Hüne in Zivil steht daneben und sagt zur Staatsgewalt: „Wenn es euch nur um die Quote geht, dann nehmt doch mich mit!“ Unter dem Pfeifen der Menge wird er abgeführt.
Eigentlich herrscht in Russland Demonstrationsverbot
Es ist von außen schwer zu beurteilen, ob und bis zum welchem Punkt, sich die Demonstranten im „Rahmen der Gesetze“ bewegen. Eigentlich herrscht in Russland schon wegen der Corona-Pandemie Demonstrationsverbot. Dennoch gingen in rund 100 Städten Zehntausende auf die Straße. Es ist auch nicht klar, ob sie alle Nawalny-Unterstützer sind. Auf jeden Falle haben die Leute irgendwie die Nase voll vom System und wollen Veränderungen. Und wer fragt schon in revolutionären Momenten nach Gesetzen? Man kann die Kapitol-Erstürmer Washingtons vom 6. Januar als Mob und Neonazis abtun - unaufgeregte Beobachter der Szenerie meinten später zumindest in Teilen auch Angehörige einer „enttäuschten Arbeiterklasse“ ausgemacht zu haben, die für sich im Amerika von heute keine Zukunft mehr sehen.
Allerdings erwecken die russischen Demonstranten rein äußerlich viel eher den Eindruck einer friedlich protestierenden Zivilgesellschaft, als die amerikanischen Bisonhörner-Träger oder gar der vermummte Mob, der gerade plündernd durch Hollands Städte marodiert. Auch hier geht es um den Dreiklang „Gesetz, Protest und Staatsgewalt„. Der SPD-Politiker und „Russland-Versteher„ Matthias Platzeck rät in diesen Tagen der russischen Führung zu mehr Mut: „In einer schwierigen Situation braucht es vor allem Mut zur Zivilgesellschaft, keine Angst vor ihr„, sagte Platzeck im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Und: „Die Verhaftung von Nawalny zeugt auch von einer gewissen Ratlosigkeit. Ich hoffe sehr, dass die Administration zur Auflösung der Situation in der Lage ist.“
Moskau muss auf Zeit spielen
Wie eine solche Auflösung aussehen könnte, ist schwer zu sagen. Dass Nawalny seine derzeitige Haftstrafe von 30 Tagen nicht überlebt, oder dass man ihn anschließend ohne Gerichtsprozess „einfach so“ wie zu Zeiten Sacharows und Solschenizyns in die sibirische Verbannung schickt, scheint jetzt, da die ganze Welt auf den Fall blickt, kaum noch möglich. Und letzteres wäre im Digitalzeitalter auch längst nicht mehr so wirksam wie einst. Dass Wladimir Putin den Märtyrer mit gewissen narzisstischen Symptomen als oppositionellen Konkurrenten im Kampf um das Präsidentenamt „einfach so“ neben sich dulden wird, ist schwer vorstellbar - schon wegen der sehr direkten Angriffe Nawalnys auf die Person Putin. Die Führung in Moskau muss auf Zeit spielen und irgendwie die Lage beruhigen. Nur mit Repression wird das nicht zu machen sein. Es wird sich bald zeigen, ob das, was jetzt in Russland vorgeht, schon eine „Dämmerung im Kreml“ (Wolfgang Leonhard) ist, oder doch nur ein Wetterleuchten.