Nicht nur bei der EMSpaltet der Regenbogen Europa neu in Ost und West?
Berlin – Die Regenbogenfahne hat in der Europäischen Union einen Konflikt entfacht, der womöglich tiefer geht, als alle bisherigen Auseinandersetzungen. Es geht um Grundwerte und deren unterschiedliche Interpretation in West- und Osteuropa. Es brach auf mit der Idee der Stadt München, die Allianz-Arena zum EM-Spiel Deutschlands gegen Ungarn am 23. Juni in Regenbogenfarben leuchten zu lassen.
Die Regenbogenfahne ist das Symbol der LGBTI-Bewegung weltweit und steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle. Was in München als Geste von Weltoffenheit und Toleranz gedacht war, wurde in Ungarn und Polen als Affront und Versuch gesehen, über den Sport politisch Druck aufzubauen.
Schwule wurden in der Sowjetunion schon lange verfolgt
In dieser Auseinandersetzung spielt die Geschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle, sagt der Osteuropa-Historiker Alexander Friedman, der aus Belarus stammt und jetzt in Deutschland lebt. In der Zeit des Kommunismus sei die Gesetzgebung gegenüber Homosexuellen in einigen Ostblockländern, etwa in Ungarn und der CSSR, zwar fortschrittlicher gewesen als in der Bundesrepublik. Andererseits habe aber die scharfe Verfolgung von Schwulen in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten eine lange Tradition, die noch auf Stalin zurückgeht.
Im Westen haben Schwule, Lesben und Transmenschen schon vor Jahrzehnten auf sich aufmerksam gemacht und sich ihre Rechte erkämpft. „So etwas hat es in Osteuropa nie gegeben“, sagt Friedman. Von Gleichstellung sei nie die Rede gewesen, der Kampf darum habe faktisch erst langsam mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989/90 begonnen.
Vorbehalte gegen Liberalisierung auch im Westen
„Die Phase der Liberalisierung der Gesellschaft war im Westen viel länger“, sagt auch Katharina Bluhm, Professorin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Zugleich gibt sie aber zu bedenken, dass die Offenheit auch in Westeuropa längst nicht so lange gelebtes Leben ist, wie uns das heute scheinen mag. „Es gab und gibt auch im Westen starke Vorbehalte, wenn man beispielsweise nur an Frankreich denkt und wie lange es dort Widerstände gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gab“, erläutert Bluhm.
Hintergrund für die letztlich von der Fußballorganisation Uefa abgelehnte Regenbogenaktion in München war ein neues Gesetz, das am 15. Juni vom ungarischen Parlament verabschiedet worden war und Publikationen verbietet, die über Geschlechtsangleichungen oder Homosexualität informieren und für Minderjährige zugänglich sind. Das Gesetz verbietet auch Bücher, Aufklärungskampagnen oder Werbung, die Familie anders zeigen als in der klassischen Form „Vater, Mutter, Kinder“.
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„In keinem anderen europäischen Land hat man die Entwicklung in Ungarn so genau verfolgt, wie in Deutschland“, hat Friedman beobachtet, und er führt auch dies wieder auf die Geschichte zurück: Die Homosexuellen seien vom NS-Regime massiv verfolgt worden, galten als „entartet“ und als „Volksschädlinge“. Die Gestapo erfasste Zehntausende Männer, die als homosexuell galten, 50.000 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet. „Wegen dieser Vergangenheit reagiert man heute in der Bundesrepublik so sensibel“, sagt Friedman.
Der Paragraf 175 aus dem Jahr 1872, der Homosexualität unter Strafe stellte, blieb – von den Nazis massiv verschärft und von der Bundesrepublik zweimal reformiert – bis Juni 1994 in Deutschland in Kraft. Die DDR tabuisierte Homosexualität jahrzehntelang, kehrte im Strafrecht aber immerhin zur Rechtslage vor der Nazi-Zeit zurück und schaffte zum 1. Juli 1989 durch Beschluss der Volkskammer den Strafparagrafen ganz ab.
Krach beim EU-Gipfel mit Orbán
Beim EU-Gipfel am 24. Juni gab es dann den großen Krach mit Ungarns Regierungschef Viktor Orbán. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte das neue Gesetz „eine Schande“ und mehrere westliche Spitzenpolitiker gingen Orbán verbal massiv an: Das Gesetz sei eine rote Linie, sagte Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel, und der portugiesische Premier António Costa erinnerte daran, dass die EU nicht die Sowjetunion sei – man trete freiwillig ein, wenn man die Werte teile. Wer die Werte nicht teile, der könne auch nicht Mitglied sein.
Orbán verteidigte sich und sagte, er habe selbst für die Rechte von Homosexuellen gekämpft, aber hier gehe es um den Schutz von Kindern und das Recht der Eltern auf deren Erziehung. Historiker Friedman sagt, Orbán sei in seiner Jugend tatsächlich ein liberaler Politiker gewesen, aber heute sei er in erster Linie ein Opportunist. Das neue Gesetz, das stark von der homophoben Gesetzgebung in Russland inspiriert ist, sei eindeutig innenpolitisch motiviert, auch wenn das Thema von den meisten Ungarn gar nicht als besonders wichtig empfunden wird.
Friedman: „Die Schwulenfeindlichkeit wird instrumentalisiert, um Eigenständigkeit und Stärke zu demonstrieren. Seht her: Wir lassen uns nicht mehr vom Westen herumkommandieren.“ Es gehe darum, sich als Verfechter traditioneller Werte zu profilieren, die dem dekadenten Westen überlegen sind.
Auch Katharina Bluhm sieht das Ganze als eine Art späte Abwehrreaktion auf die Schocktherapie beim Wandel vom Sozialismus zum Kapitalismus. Die Enttäuschung über einen Transformationsprozess, von dem man anderes erhofft hatte, trifft auf einen Resonanzboden in der Bevölkerung, der die traditionelle Ehe sehr stark stützt.
Orbán stand in Brüssel nicht allein auf weiter Flur, erhielt Rückdeckung von Slowenien und Polen. Als „unangebracht und verletzend“ bezeichnete Polens Botschafter in Berlin, Andrzej Przyłębski, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) die Münchner Illuminationspläne. Er sagte, das Recht des ungarischen Parlaments, Schulkinder vor der Beschäftigung mit der „homosexuellen Problematik“ gesetzlich zu schützen, sei evident und unbezweifelbar. Dies hab nichts mit Intoleranz zu tun, geschweige denn mit der Verfolgung Homosexueller oder der Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte.
Das Gesetz sei seines Wissens auf die Schulausbildung begrenzt, sein Sinn sei also, Kinder vor der Frühsexualisierung zu schützen. Przylebski: „Den Versuch, das ungarische Volk durch die geplante Beleuchtung des Stadions in München während des Fußballspiels Deutschland–Ungarn anzuprangern, finde ich unangebracht und verletzend.“
Zeman spricht von „Straftat der Selbstverstümmelung“
Verständnis für das ungarische Gesetz zeigte auch der tschechische Präsident Milos Zeman (76), der die Debatte zusätzlich mit negativen Äußerungen über Transmenschen befeuerte. Zeman kritisierte geschlechtsangleichende Operationen in einem TV-Interview scharf und sagte, wer das mache, der begehe die „Straftat der Selbstverstümmelung“. „Jeder medizinische Eingriff ist ein Risiko, und diese Transgenderleute sind mir wirklich von tiefster Seele zuwider.“ Auch ein für Anfang August in Prag geplantes LGBTI-Festival kritisierte Zeman und sagte: „Wenn ich etwas jünger wäre, würde ich eine riesige Demonstration von Heterosexuellen in Prag organisieren (…), um allen zu zeigen, wie sinnlos das ist.“
Auf die Frage, ob bei der Bewertung der Thematik auch das Alter der Akteure eine Rolle spiele, sagte Friedman, das sei möglich, aber in Polen gebe es auch viel jüngere Politiker, die sich offen homophob äußern. Zeman sei nicht sympathischer, aber „ehrlicher“ als Orbán. Viele Tschechen würden ihren Präsidenten peinlich finden und über ihn spotten. Aber, so Friedman, er würde das, was er sagt, auch so meinen. Bei Orbán spiele da viel mehr politisches Kalkül eine Rolle, um politische Stimmungen anzuheizen.
Katharina Bluhm hält es für möglich, dass Orbán gehofft hatte, in Brüssel eine Ost-West-Front aufzumachen und sich dabei verkalkuliert hat. Er sieht sich nicht als Zerstörer der EU, sondern als ihr Retter, der die Gemeinschaft zurückführt auf ihre traditionellen christlichen Werte.
Homosexuelle tragen aus nationalkonservativer Sicht nicht zur Reproduktion der Nation bei
Für sehr wichtig in der gesamten Debatte hält Bluhm den Aspekt der Demografie. Alle ehemaligen Ostblockländer mussten sich zu Beginn der 1990er-Jahre als Nationen neu erfinden, erlebten zugleich einen enormen Geburtenknick und die massive Abwanderung junger Leute nach Westeuropa oder in die USA. Die rasche Liberalisierung, Privatisierung und Integration in die EU habe zu massiven sozialen Verwerfungen und in vielen Ländern zu einer hohen Transnationalisierung von Schlüsselbranchen in der Hand westlicher Konzerne geführt, die ihre Produktion vor allem wegen der Lohnkosten nach Mittelosteuropa verlagerten.
Das habe zu einem neuen Gefühl von Abhängigkeit und zu dem Eindruck geführt, dass die Angleichung der Lebensbedingungen noch sehr lange auf sich warten lassen wird, während die ehemalige kommunistische Elite zusammen mit den Liberalen ihren Profit daraus gezogen haben. Hinzu kam dann noch der massive Normentransfer im Zuge der Demokratisierung und des EU-Beitritts, zu dem auch die um Minderheiten- und Kinderrechte erweiterten Menschenrechte gehörten.
„Das ist der Beginn eines rechten Souveränitätsdiskurses, dessen fester Bestandteil die Zurückweisung von LGBT und Feminismus ist“, sagt Bluhm. Homosexuelle tragen aus nationalkonservativer Sicht nicht zur Reproduktion der Nation bei, verhalten sich somit sogar „unpatriotisch“. Da diese Denkweise eine Lösung des demografischen Problems durch Einwanderung kulturell „Fremder“ strikt ablehnt, wird die Frau auf ihre Rolle als „Geburtsmaschine der Nation“ zurückgeworfen, hat Bluhm beobachtet. Die Frau müsse erste Stütze der „Normfamilie“ sein mit wenigsten zwei, besser drei und mehr Kindern. Ausdruck dessen sei beispielsweise auch das nahezu vollständige Abtreibungsverbot, das seit Jahresbeginn in Polen Gesetzeskraft erlangte. Diese neue Normfamilie werde im Übrigen auch in Russland von Kirche und Staat propagiert.
Lukaschenko: „Besser Diktator als schwul“
Während die Zurückweisung westlicher Werte in den meisten osteuropäischen Ländern über einen längeren Diskurszeitraum mit dem Ziel der Rückgewinnung verloren geglaubter Souveränität verläuft („wir sind lange genug belehrt worden“), geben sich echte Hardliner ganz unverblümt schwulenfeindlich ohne jeglichen Anschein einer Debatte.
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bleibt sich dabei seit Jahren treu. Als 2012 der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) Lukaschenko den „letzten Diktator Europas“ nannte, konterte der mit den Worten: „Besser Diktator als schwul.“ Zwar gebe es bislang in Belarus keine homophoben Gesetze wie in Russland oder Ungarn, weil man vor Jahren eine Zeit lang auf Annäherung an den Westen hoffte, sagt Alexander Friedman. Aber: „Lukaschenko ist wohl der größte Schwulenhasser in der europäischen Politikszene.“
Und als solcher sorgt er ständig für neue Entgleisungen. Im Onlineportal „SB.BY“, dem Sprachrohr des Präsidialamtes in Minsk, wurde Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) zunächst als Erbe der Nazis beschimpft und dann am 1. Juli in einem Leitartikel in die Nähe von Schwulen gerückt. Friedman: „Das wird daran festgemacht, wie Maas sich kleidet und wie er aussieht, und dann wird suggeriert, dass das Amt des Außenministers in Deutschland etwas für Homosexuelle ist.“ Die belarussische Staatspropaganda stellt den Westen generell als von „Schwulen verseucht“ dar und das Erste, was in Belarus nach dem Sieg der Opposition eingeführt werden würde, wäre die Homo-Ehe, heißt es.
„Liberale und Nichtliberale“
So weit geht Viktor Orbán nicht, aber er rudert nach seiner Abwatschung in Brüssel auch nicht zurück. Zu Beginn dieser Woche hat er Mark Rutte, dem liberalen Regierungschef der Niederlande, schriftlich geantwortet. Rutte hatte Orbán auf dem EU-Gipfel den Austritt nahegelegt und mit Bezug auf das Homosexuellen-Gesetz gesagt: „Viktor, wenn du das machst, warum bleibst du dann in der EU?“ Nun ließ Orbán Rutte laut „FAZ“ wissen: „Es gibt die Einheit der Werte nicht, und deshalb gibt es auch keine politische Einheit.“ Orbáns Resümee: „Wenn wir die Europäische Union zusammenhalten wollen, müssen die Liberalen die Rechte der Nichtliberalen respektieren.“
Evelyn Paradis, Geschäftsführerin von ILGA-Europe, der europäischen LGBTI-Interessenvertretung, meint, es bestehe die reale Gefahr, dass die Regenbogenfahne am Ende mehr polarisiert als zusammenführt. „Wenn zugelassen wird, dass die Flagge und die LGBTI-Rechte zum Sinnbild einer ‚Wir-gegen-die‘-Debatte gerät, wird dabei nichts Gutes herauskommen“, schreibt sie in einem Essay für das „IPG-Journal“ der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Symbolische Akte wie in Regenbogenfarben beleuchtete Stadien seien zweifellos wichtig, aber „wenn wir die Regenbogenflagge dazu benutzen, ganze Länder an den Pranger zu stellen, tragen wir vielleicht unabsichtlich zur Isolierung der LGBTI-Personen in (…) Polen oder Ungarn bei, statt Menschen zusammenzubringen, die sich für Gleichberechtigung starkmachen.“