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Mythos in der TiefeWarum fasziniert uns die „Titanic“ so sehr?

Lesezeit 6 Minuten
Ein undatiertes Archivfoto zeigt den früheren Luxusdampfer „Titanic“.

So sah der Luxusdampfer „Titanic“ aus, bevor er im Atlantik in die Tiefe sank.

Hochauflösende 3‑D-Bilder vom Wrack sollen endlich Aufschluss über den Untergang des Luxusliners bringen. Ist der Geschichte der „Titanic“ nun mit Computerdaten beizukommen? Oder sind die entscheidenden Fragen sowieso nicht mehr zu beantworten?

Auf dem Fairview Cemetery in Halifax ist ein Toter unvergessen: Der Grabstein mit der Nummer 227 wird gelegentlich immer noch mit Geschenken dekoriert. Ein gewisser J. Dawson ist auf diesem Friedhof in der kanadischen Provinz Nova Scotia beerdigt, ein Kohlentrimmer, zuständig im tiefsten Schiffsbauch für den Nachschub mit Brennmaterial. Ein dreckiger, ein gefährlicher Job.

An solche Leute erinnert sich die Nachwelt selten. Und doch brachte es der junge Unbekannte 1997 posthum zu einiger Berühmtheit: Hollywoodregisseur James Cameron nannte den von Leonardo DiCaprio gespielten Helden in seinem Hollywoodmelodram „Titanic“ ausgerechnet Dawson – angeblich ohne von der Existenz des echten Dawson zu wissen.

Der in Halifax begrabene Dawson tat einst Dienst auf jener berühmt-berüchtigten „Titanic“, die am 15. April 1912 im Nordatlantik versank. Mit 327 anderen Opfern wurde er in Halifax beerdigt.

Überheblichkeit führte damals in die Katastrophe

Von hier war die Besatzung des Kabelschiffs Mackay-Bennett mit Särgen, Leichensäcken, Einbalsamierungsflüssigkeit und vielen Tonnen Eis ausgelaufen, um die Toten 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland zu bergen. Viele trieben senkrecht in ihren Schwimmwesten. „Ihre Körper tanzten in der kalten See auf und nieder“, beschrieb ein Besatzungsmitglied den Anblick.

In der Friedhofsanekdote vermengen sich Kino und Wirklichkeit auf geradezu makabre Weise. Der Sensationserfolg von Camerons Film war aber nur deshalb möglich, weil sich die Tragödie ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat: Der Untergang des Ozeanriesen lässt uns bis heute nicht los. Menschliche Überheblichkeit führte damals in die Katastrophe.

Auf ihrer Jungfernfahrt vom englischen Southampton nach New York prallte die „Titanic“ um 23.40 Uhr mit einem Eisberg zusammen, zerbrach zwei Stunden und vierzig Minuten später in zwei Teile und sank auf 3821 Meter Tiefe. Dabei galt das Schiff als „practically unsinkable“, praktisch unsinkbar.

Einen Untergang hatte niemand ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Reederei White Star hatte die Zahl der Rettungsboote reduziert, um Platz an Deck zu gewinnen. 1523 von 2228 Passagieren starben. Bei der Bergung der Leichen wurde erstmals ein Identifizierungssystem für die Opfer angewendet, wie es heute bei großen Unglücken üblich ist. Die Toten wurden nummeriert, ihre Habseligkeiten katalogisiert, Erkennungszeichen wie Tattoos festgehalten.

Hochauflösende Bilder vom Wrack

Ungezählte Bücher sind über den Untergang geschrieben worden. Mindestens zehn „Titanic“-Verfilmungen gab es schon, bevor Cameron seinen Eisberg in Szene setzte. Der erste Untergangsfilm hatte vier Wochen nach der Katastrophe in New York Premiere. Im zehnminütigen Werk „Saved from the ‚Titanic‘“ stand eine Überlebende vor der Kamera: Dorothy Gibson, eine Schauspielerin. Sie zog für den Katastrophen­stummfilm noch einmal dieselben Kleider an, die sie auf dem Schiff getragen hatte.

Die Faszination ist auch 111 Jahre später ungebrochen: Hochauflösende Bilder vom Grund des Ozeans sollen nun genaueren Aufschluss über den Ablauf des Unglücks geben. Aus mehr als 700.000 3‑D-Bildern, aufgenommen in monatelanger Arbeit von Tauchbooten, lässt sich das „Titanic“-Wrack zusammensetzen, beinahe so, als wäre es aus dem Wasser gehoben worden.

Bislang war es nicht gelungen, die Titanic in ihrer Gesamtheit aufzunehmen. Das Heck und der Bug liegen rund 800 Meter voneinander entfernt. Ein gewaltiges Trümmerfeld umgibt die Unglücksstelle.

Wenig über Zusammenprall bekannt

Jeder Quadratzentimeter sei im Sommer 2022 kartiert worden, auch der Schlamm am Meeresgrund, sagt Gerhard Seiffert von dem auf die Tiefsee spezialisierten Kartierungs­unternehmen Magellan. Zu sehen sind viele Details, sogar die Seriennummer eines Propellers.

Bis heute ist erstaunlich wenig über den Zusammenprall bekannt: „Wir wissen nicht einmal, ob der Eisberg die ‚Titanic‘ an der Steuerbordseite getroffen hat, wie es in allen Filmen gezeigt wird – sie könnte auch auf dem Eisberg gelandet sein“, sagte der „Titanic“-Experte Parks Stephenson der BBC.

Stephenson hofft, dass die Forschung nun bald nicht mehr auf Spekulationen angewiesen ist. Die Bilder helfen beim Wettlauf gegen die Zeit: Das Wrack verfällt zusehends in der Meeresströmung in bald 4000 Metern Tiefe. Bakterien haben Metallteile zerfressen, Teile des Rumpfs sind eingestürzt.

Entdeckt worden war die Titanic 1985. Zwei Jahre später barg ein Tauchroboter knapp 2000 Fundstücke, darunter viele persönliche Gegenstände von Passagieren.

Star-Regissuer Cameron nannte es „versunkenes Denkmal der Menschheit“

Kinoregisseur Cameron hatte sich 1995 selbst ein Bild vom Wrack gemacht. In Zusammenarbeit mit einem russischen Forschungsschiff organisierte er Tauchexpeditionen. Eigens konstruierte, ferngesteuerte Mini-U‑Boote lieferten noch nie gesehene Bilder aus dem Inneren des Schiffs. Diese Aufnahmen flossen in sein Kinodrama ein (später brachte er die Doku „Die Geister der ‚Titanic‘“ ins Kino).

Als Cameron wieder zurück an der Meeresoberfläche war, schwärmte er von seinem Erlebnis: Die „Titanic“ sei ein „versunkenes Denkmal der Menschheit“, sei „Geschichte und Geisterbahn, Museum und Schatztruhe“. Sie liege wie ein „abgestürztes Weltraumschiff auf dem Grund des Meeres“.

Cameron versteht das traurige Schicksal der „Titanic“ als eine Warnung vor menschlichem Größenwahn. Kapitän Edward John Smith starb damals wie all seine Offiziere beim Untergang des Luxusliners. Er hatte vor der Abfahrt gesagt: „Ich kann mir kein Unglück vorstellen, das die ‚Titanic‘ treffen könnte.“ Mit ihr sei der Schiffsbau in neue Dimensionen vorgestoßen.

Astrophysiker fanden Erklärung für ungewöhnliche Eisberg-Position

Dabei wurde auch dieses Unglück von menschlichen Fehlleistungen begünstigt: Smith hielt am Tempo seines Schiffs trotz Eisbergwarnung fest. Fernrohre waren unerklärlicherweise weggeschlossen. So blieben dem Ersten Offizier wohl nur 37 Sekunden Zeit, um zu reagieren. Zu allem Überfluss bestanden auch noch Rumpfnieten aus zu sprödem Material.

Ungewöhnlich waren Eisberge auf der „Titanic“-Route tatsächlich. Pünktlich zum 100. Jahrestag des Untergangs 2012 hatten Astrophysiker eine Erklärung dafür im Angebot: Der Mond war der Erde in jener Nacht ungewöhnlich nahe. Dadurch sei die Gezeitenkraft verstärkt worden und habe die eisigen Giganten aus den flachen Gewässern vor Neufundland emporgehoben und gewissermaßen befreit. Sie trieben viel weiter südlich als üblich.

Aber was helfen all solche wissenschaftlichen Deutungsversuche? Auch die nun so begeistert aufgenommen Bilder vom Meeresgrund werden die Fragen kaum beantworten, die sich stellen.

Ungeklärte Fragen bleiben bestehen

Prallte die „Titanic“ nur deshalb mit dem Eisberg zusammen, weil sich Erster Offizier und Steuermann nicht über die Richtung des Ausweichmanövers einigen konnten? Lieferten sich Passagiere tatsächlich lustige Schlachten mit dem Schnee, der beim Zusammenprall aufs Deck geprasselt war? Spielte die Kapelle wirklich bis zuletzt den Choral „Näher mein Gott, zu dir“? Und verkleideten sich Männer als Frauen, um einen Platz in den oft nur halb gefüllten Rettungsbooten zu ergattern?

Die „Titanic“ ist mehr als ein unglückseliger Dampfer, der ächzend und knirschend im eiskalten Wasser versank. Sie ist ein Mythos und mehr noch ein Symbol: Auswanderer in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Amerika wurden in den Untergang gerissen. Die Passagiere der ersten Klasse tanzten am Rande des Abgrunds. In dieser Nacht um 23.40 Uhr bekam der Fortschrittsglaube zumindest einen Knacks.

Nur zwei Jahre später brachte der Erste Weltkrieg millionenfachen Tod. Die „Titanic“ wurde zum Menetekel für das heraufziehende katastrophenreiche 20. Jahrhundert.