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„Ich möchte helfen“Krieg schweißt Polen und Ukrainer neu zusammen

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Kinder schlafen am frühen Morgen auf dem Boden in der Bahnhofshalle von Przemysl.

Przemysl – Der Englischlehrer Pawel Kulczycki (49) steht mit seinem Toyota Yaris am Grenzpunkt Medyka. Hier, im Südosten Polens, kommen seit Tagen ukrainische Kriegsflüchtende in Bussen, Autos oder zu Fuß über die Grenze, um dem Horror in ihrem Land zu entgehen. Alexandra (46) und ihr 17-jähriger Sohn Jaroslaw haben sich mit einem Rollkoffer und einer Sporttasche auf den Weg gemacht. Es war nicht weit. 26 Kilometer sind es von ihrem ukrainischen Heimatstädtchen Mosciska bis zur Grenze. Nun sind sie in Polen. In Sicherheit.

„Wir wollen weiter nach Frankfurt am Main“, sagt Alexandra. Am Grenzpunkt Medyka haben Hilfsorganisationen Zelte aufgebaut, verteilen warme Decken, Proviant und Medikamente. Autos mit Kennzeichen aus halb Europa stehen bereit, um Verwandte und Bekannte abzuholen, die es wie Alexandra über Grenze geschafft haben. Eine Frau aus Kiew ist schon seit dem 17. Februar in Polen. „Ich wollte ein paar Tage Urlaub machen“, berichtet sie. „Dann kam der Krieg.“

„Es gibt Erfrierungen, Infektionen und andere Krankheiten“

Jetzt steht sie am Grenzpunkt und wartet auf ihre Tochter, die sich allein von der ukrainischen Hauptstadt nach Medyka durchgeschlagen hat. Plötzlich sieht sie ihren Teenager, winkt heftig – „Hier bin ich“ – und dann sind es nur noch ein paar Schritte. Kurz bevor sie sich in die Arme fallen, ruft sie noch: „Nicht weinen!“ Und: „Bitte keine Fotos.“ Die Szene läuft abends in der „Tagesschau“.

Gleich hinter dem Grenzpunkt steht ein kleines weißes Zelt mit israelischer Flagge und dem Banner „Rescuers without Borders“ („Retter ohne Grenzen“): Seit Tagen schon tut hier der aus Haifa stammende drusische Mediziner Dr. Amin Seidan Dienst. Er hat Urlaub genommen, um hier zu helfen. „Wir haben Leute behandelt, die tagelang barfuß durch den Schnee gelaufen sind. Es gibt Erfrierungen, Infektionen und andere Krankheiten.“

„Es sind anstrengende Tage“

Unterstützt wird er von Krankenschwester Malka Stein und zwei weiteren Helfern. „Es sind anstrengende Tage“, sagt er und kümmert sich um die nächste Infusion. Alexandra indes hat noch keine Mitfahrgelegenheit gefunden. Da fasst sich der Englischlehrer Kulczycki ein Herz und sagt: „Ich fahre euch bis zur nächsten Busstation.“ In seinem Toyota hat er ein halbes Dutzend Schlafsäcke und einen Sack voll Decken verstaut, um sie an Bedürftige anzugeben.

So wie er sind in diesen Tagen Tausende Polen als Freiwillige im Einsatz, um den Ukrainern zu helfen. Die gemeinsame Geschichte der beiden Völker ist lang, aber nicht nur von Freundschaft geprägt. Während des Zweiten Weltkriegs etwa haben ukrainische Nationalisten bei einem Massaker in Wolhynien Zehntausende Polen getötet. Umgekehrt ordneten die polnischen Kommunisten 1947 die Zwangsumsiedlung von Zehntausenden ethnischen Ukrainern in den Norden Polens an, um dort die von Deutschen verlassenen Gebiete neu zu besiedeln.

Freiwillige melden sich zum ukrainischen Militär

„Der Krieg schweißt unsere beiden Nationen neu zusammen“, sagt Kulczycki und drückt aufs Gaspedal. Poul Bernd Ardhuin (48) bleibt mit seiner Sporttasche an der Grenze zurück. Er ist, wie er sagt, „halb Franzose, halb Deutscher“, lebt in Waltershausen in Thüringen und hat, wie er sagt, in der Fremdenlegion gedient. Eigentlich wollte er „rüber in die Ukraine“, aber weil er seinen Pass vergessen hat, habe man ihn nicht gelassen. „Jetzt will ich wenigsten eine Familie mit nach Deutschland zurücknehmen, damit ich nicht ganz umsonst hergekommen bin“, sagt er.

Ardhuin ist kein Einzelfall. Immer wieder kommen junge, kräftige Männer mit Sporttaschen, die den Grenzpunkt in Richtung Ukraine überqueren. Es sind Freiwillige, die sich zum ukrainischen Militär gemeldet haben. Auch Jaroslaw, der 17-jährige Sohn von Alexandra, wollte im Land bleiben und kämpfen. Die Mutter hat den schmächtigen Jungen nicht gelassen.

Kostenlose Busverbindungen in alle Himmelsrichtungen

Jetzt sitzen sie in Kulczyckis Toyota und erreichen auf halben Weg zwischen Medyka und der Stadt Przemysl an einem Supermarkt einen improvisierten Busbahnhof. Von hier aus geht es für ukrainische Flüchtlinge kostenlos in alle Himmelsrichtungen. Schnell ist ein Bus nach Hannover gefunden. „Das ist ja fast schon Frankfurt“, freut sich Alexandra, steigt mit Jaroslaw ein, und ab geht die Fahrt nach Deutschland.

Neben dem „Busbahnhof“ ist so etwas wie ein riesiger Flohmarkt entstanden, nur dass hier nichts gehandelt, sondern alles verschenkt wird: Kisten und Kartons voller Kleidung, Kinderspielzeug, Pampers, Medikamente, eingeschweißte Nahrungsmittel, Getränkedosen und vieles mehr. Auf einem schwarzen Plastiksack klebt ein weißer Zettel: „Jacken, Schneeanzüge“, steht da auf Deutsch.

Przemysl gleicht einem Bienenstock

Die zehn Kilometer entfernt im Karpatenvorland gelegene 65.000-Einwohnerstadt Przemysl gleicht in diesen Tagen einem Bienenstock. Der Gründerzeit-Bahnhof aus den Tagen der österreichisch-ungarischen Monarchie ist der erste Haltepunkt nach der Grenze zur Ukraine. Hier kommen Züge aus Kiew, Lwiw (Lemberg) und Odessa an. In den Wartehallen sind Feldbetten aufgeschlagen, überall drängen sich Menschen, Freiwille geben Essen aus.

An einem riesigen Suppenkessel steht Julien de Lenart aus Belgien und schwingt die Schöpfkelle. „Ich war noch nie Polen, habe den Krieg im Fernsehen gesehen und bin spontan losgefahren“, erzählt der Mann, der sonst zuhause in einem Food-Shop arbeitet. Es habe noch eine kurze Diskussion mit seiner Frau gegeben, dann sei er aufgebrochen. „Ich möchte helfen“, sagt der Mittvierziger und füllt die nächste Schüssel mit Rote-Bete-Suppe.

Erst Flucht nach Kiew, dann Flucht nach Polen

Sie geht an Elmira (52). Die Babuschka (Oma) hat ihren fünfjährigen Enkel Ismail bei sich und ihre Tochter Marile (15). Sie sind Krimtataren, Angehörige jener turksprachigen ethnischen Minderheit, die unter Stalin massiv verfolgt und von der Halbinsel deportiert wurde. Später kehrten viele zurück, sehen sich aber seit der russischen Annexion der Krim 2014 neuerlichen Repressalien ausgesetzt.

„Zuerst sind wir von der Krim nach Kiew gezogen, und jetzt sind wir vor dem Krieg nach Polen geflohen“, berichtet Elmira. Sie wollen nach Deutschland, aber das geht nicht so einfach, weil sie für den kleinen Ismail keinerlei Dokumente haben. „Seine Eltern sind in Kiew geblieben und wollen in der ukrainischen Armee kämpfen“, sagt die Oma. Nun müssten sie erst einmal nach Warschau aufs Konsulat, um für den Jungen Papiere zu bekommen.

Chaotisches Gewusel mit gutem Geist

Das für den Beobachter zuweilen chaotisch anmutende Gewusel im Bahnhof folgt einem im Hintergrund agierenden guten Geist. Es ist Pater Pawel Konieczny (36), Leiter der Caritas-Diözese Przemysl. Die katholische Hilfsorganisation hat im Hauptbahnhof das Management übernommen und versorgt Geflüchtete, Helfer, Polizisten, Feuerwehrleute und andere Einsatzkräfte.

„Wir stellen in unserer Küche täglich 700 bis 800 Essen her“, erklärt Pater Konieczny. Hinzu kommen Tausende Sandwich-Pakete, die jeden Tag in den 400 Gemeinden der Diözese mit Hilfe von Spendern bereitgestellt werden. Die Caritas hat landesweit Spendenaktion via SMS ausgelöst und damit in kurzer Zeit 500.000 Zloty (umgerechnet 103.000 Euro) gesammelt. Von dem Geld werden unter anderem Medikamente für die Flüchtlinge gekauft.

Mehrere Hunderttausend ukrainische Flüchtlinge in Polen

Inzwischen werden die Tabletten in den umliegenden Apotheken knapp. Heldengeschichten kursieren in der Stadt: Ein Deutscher sei gekommen, habe 40.000 Euro in bar auf den Tisch einer Apotheke gelegt und gesagt, man solle kaufen, was immer benötigt werde. „Wir waren vom ersten Tag an zur Stelle und haben uns um die von Not betroffenen Menschen gekümmert“, sagt Pater Konieczny. Nach seiner Beobachtung bleiben die meisten Flüchtlinge nur ein oder zwei Tage in Przemysl, um dann weiter zu Verwandten oder Bekannten nach Westeuropa aufzubrechen.

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Polens Vizeaußenminister Szymon Szynkowski vel Sek teilte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) in Warschau mit, Polen habe bislang bereits mehrere Hunderttausend ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. „Gut möglich, dass bereits in Kürze mehr als eine Million Bürger dieses Landes bei uns leben werden“, sagte vel Sek.

Polen als wichtiger Stützpunkt der Nato

Ganz Polen engagiere sich für die Aufnahme der ukrainischen Nachbarn. Die Bahn lasse Flüchtlinge kostenlos fahren, die Versicherungsgesellschaft PZU versichere unentgeltlich Fluchtfahrzeuge in Polen, das Bildungsministerium ermögliche den Schulbesuch ukrainischer Kinder. Vel Sek: „Polen ist zum wichtigsten „Hub„ der internationalen humanitären Hilfe für Ukraine geworden.“

Doch nicht nur das: Polen ist als direktes Grenzland zum russischen Aggressor auch ein wichtiger Stützpunkt der Nato. Schon vor Ausbruch des Krieges hatten die USA zusätzlich rund 4700 Soldaten nach Polen entsandt, um sich den schon dort stationierten rund 4000 Kräften anzuschließen. Die Neuankömmlinge landeten auf dem Flughafen in Rzeszow, der knapp 200.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der Woiwodschaft Karpatenvorland, rund 90 Kilometer von Przemysl entfernt.

„Wichtig ist, dass wir zusammenhalten!“

Die futuristische anmutende G2A-Arena, in der sonst Rockkonzerte stattfinden, ist jetzt von einem in aller Eile errichteten blickdichten Aluminiumzaun umgeben. Drinnen haben Tausende Soldaten der 82. US-Luftlandedivision Quartier bezogen. Das ist jene Truppe, die die Luftbrücke beim chaotischen Abzug der Amerikaner aus Afghanistan im Sommer vergangenen Jahres organisierte. Der Kommandeur in Polen, Generalmajor Chris Donahue, war der letzte US-Soldat, der mit einem Militärflugzeug Kabul verließ.

In Rzeszow rätselt man derweil, ob die Amerikaner, die mit drei großen Militärtransportmaschinen gekommen sind, nur für eventuelle Evakuierungen bereitstehen oder im Ernstfall auch anderweitig eingesetzt werden sollen. Englischlehrer Pawel Kulczycki, der in Rzeszow wohnt, sagt: „Wichtig ist, dass wir zusammenhalten!“ (rnd)