Der Vormarsch gegen die russischen Besatzer hat die Siegeszuversicht in der Ukraine ebenso wie im Westen befeuert. Der Optimismus könnte aber verfrüht sein.
Putins langer AtemRussland spielt im Ukraine-Krieg auf Zeit
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versteht es meisterhaft, seinen Landsleuten Mut zuzusprechen. Bei einer seiner abendlichen Videobotschaften sagte er im November diese optimistischen Worte: „Wir alle spüren, wie unser Sieg naht.“ Wenige Tage zuvor hatten ukrainische Truppen die russischen Besatzer aus der strategisch wichtigen Stadt Cherson verdrängt – der bislang letzte einer ganzen Reihe von Erfolgen auf dem Schlachtfeld.
Seitdem herrscht aber weitgehend Stillstand an der mehr als 1000 Kilometer langen Front. Das Problem aus Sicht des Westens: Der russische Präsident Wladimir Putin hat Zeit. Die Ukraine eher nicht.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben im vergangenen Jahr ein Wechselbad der Gefühle durchlebt: Erst der russische Überfall am 24. Februar, nach dem manche im Westen die Ukraine fast schon abgeschrieben hatten. Dann die Gegenoffensiven: Erst gelang es den ukrainischen Truppen, die Besatzer aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew zu vertreiben. Im September und Oktober wurden die Angreifer aus der Region Charkiw und aus Teilen des Donbass verdrängt. Im November mussten die Russen sich dann aus Cherson zurückziehen.
Was bringt die russische Frühjahrsoffensive?
Die Erfolge haben in der Ukraine zu einer Siegeszuversicht geführt, die verfrüht sein könnte. Das Institut für Kriegsstudien (ISW) in den USA geht davon aus, dass der Kreml eine „entscheidende strategische Aktion“ vorbereitet, um in den nächsten sechs Monaten die Initiative zurückzugewinnen. Expertinnen und Experten rechnen mit einer russischen Frühjahrsoffensive. Sie verweisen darauf, dass in den kommenden Wochen 200.000 russische Reservisten, die im September in einer ersten Welle mobilisiert wurden, ihre Ausbildung abschließen dürften. Zum Vergleich: Die ursprüngliche Invasionsarmee umfasste nach US-Schätzungen 150.000 Soldaten.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte anlässlich der Teilmobilmachung im September, Russland verfüge über 25 Millionen „potenzielle Kämpfer“. Das mag übertrieben sein. Dass Russland (gut 143 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner) verglichen mit der Ukraine (knapp 44 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner) aber ein Vielfaches an Soldaten mobilisieren kann, steht außer Frage. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagt Bundeswehrgeneral a. D. Hans-Lothar Domröse.
Mit Blick auf Kampfpanzer wie den Leopard 2 fügt er hinzu: „Deshalb müssen wir schnell liefern, sonst ist da Ende.“ Die Russen könnten trotz Verlusten weiterhin auf große Mengen an Material zurückgreifen. So seien zwar 2000 ihrer Panzer zerstört worden, sie verfügten aber immer noch über 20.000 Panzer. Die Ukraine könne nur Material ersetzen, wenn sie Nachschub vom Westen bekomme. „Personell kann die Ukraine gar nichts nachschieben.“
Die Ukraine am Tropf des Westens
Während Russland über eigene Ressourcen verfügt, den Krieg fortzusetzen, hängt die Ukraine am Tropf ihrer westlichen Partner. Der wichtigste Verbündete sind die USA, und dort nimmt besonders unter Anhängerinnen und Anhängern der Republikaner die Bereitschaft für weitere Unterstützung ab. In einer im Dezember veröffentlichten Umfrage sprachen sich in dieser Gruppe nur noch 50 Prozent für wirtschaftliche Unterstützung aus, im März waren es noch 74 Prozent.
Für Waffenlieferungen sind demnach nur noch 55 Prozent dieser Befragten, ein Minus von 25 Prozentpunkten. Seit wenigen Tagen kontrollieren die Republikaner das US-Repräsentantenhaus – weitere Hilfe könnten sie in Zukunft theoretisch blockieren.
Russische Angriffe auf ukrainische Infrastruktur dauern an
Auch die russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur dauern an. Die Russen zwingen die Ukrainer, teure und rare Luftabwehrmunition gegen verhältnismäßig günstige Kamikaze-Drohnen aus iranischer Produktion einzusetzen. Zwar ist es Putin bislang nicht gelungen, den Durchhaltewillen der Ukrainer zu brechen. Das Leid, das er über die Bevölkerung bringt, ist aber gigantisch: Nicht nur setzt er Kälte als Waffe ein, immer wieder werden bei den Luftschlägen auch Zivilisten getötet – etwa bei dem Einschlag einer russischen Rakete in einem Hochhaus in Dnipro am Sonntag, bei dem Dutzende Menschen starben.
Ein Ende des Raketen- und Drohnenterrors ist nicht absehbar. Dabei ist der Winter erst zur Hälfte vorbei, und bislang war er in weiten Teilen des Landes ungewöhnlich mild.
Putin hat Geduld
Russland stellt sich nach Überzeugung von Experten auf einen langen Krieg ein. Dass Putin Geduld hat, hat er bereits bewiesen. Tatsächlich begann der Ukraine-Krieg nicht mit dem Überfall am 24. Februar vergangenen Jahres, sondern bereits 2014. Russland annektierte damals völkerrechtswidrig die Krim und entfachte einen Krieg im Donbass in der Ostukraine. Acht Jahre lang hat Putin danach gewartet mit seinem Versuch, Russland den Rest der Ukraine einzuverleiben. Trotz der Rückschläge der vergangenen Monate gibt es keine Hinweise darauf, dass der Kremlchef von diesem Maximalziel Abstand genommen hat, wie das Institut für Kriegsstudien analysiert.
Die frühere US-Außenministerin Condoleezza Rice und der frühere US-Verteidigungsminister Robert Gates schrieben kürzlich in einem Gastbeitrag für die „Washington Post“: „Wir beide haben uns mehrfach mit Putin befasst, und wir sind überzeugt, dass er glaubt, dass die Zeit auf seiner Seite ist: dass er die Ukrainer zermürben kann und dass die Einheit der USA und Europas und deren Unterstützung für die Ukraine schließlich erodieren und brechen werden.“
Warnungen aus den USA
Die beiden Ex-Minister warnen, sollte das Patt auf dem Schlachtfeld andauern, werde der Druck des Westens auf die Ukraine steigen, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Ein solcher Waffenstillstand würde die Russen aber nur in die Lage versetzen, ihre Invasion fortzusetzen, wenn sie dazu bereit seien. Die USA und ihre Verbündeten müssten ihre militärische Unterstützung für die Ukraine daher „dramatisch“ aufstockten – unter anderem mit Kampfpanzern. An die Adresse der Bundesregierung haben Rice und Gates in dem Zusammenhang eine Forderung, sie schreiben: „Da mit der Lieferung schwerer amerikanischer Abrams-Panzer ernsthafte logistische Herausforderungen verbunden sind, sollten Deutschland und andere Verbündete diesen Bedarf decken.“