- Der Zusammenbruch der russischen Front hat begonnen.
- Die ukrainischen Streitkräfte haben mit einem Täuschungsmanöver Russland vorgeführt und im Osten innerhalb von wenigen Tagen etwa 2000 Quadratkilometer Gelände zurückerobert.
- Der russischen Armee droht ein ungemütlicher Winter.
Mit einem Blitzangriff in der Region Charkiw hat die Ukraine Russland kalt erwischt. Am Samstag sollen ukrainische Soldatinnen und Soldaten die Städte Kupjansk, Isjum und Lyman zurückerobert haben. Waffen und Munition sollen die russischen Streitkräfte auf ihrer überhasteten Flucht vielerorts zurückgelassen haben.
Unabhängig bestätigen lässt sich dies nicht. Aber nicht einmal die russische Propaganda versucht die Niederlagen wegzureden. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, kündigte den Truppenrückzug an. Russland werde seine Soldaten aus dem Gebiet Charkiw und der Stadt Isjum abziehen. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlichte zudem ein Foto, das ukrainische Soldaten in Kupjansk zeigt.
Rückeroberung von Kupjansk innerhalb weniger Tage
Die Stadt ist ein bedeutsamer Eisenbahnknotenpunkt und für die russische Logistik wichtig. Es gibt zwei wichtige Strecken, die von Russland in den Süden führen und russische Truppen in der Region Luhansk versorgen. Innerhalb weniger Tage hat die Ukraine nun ein Gebiet zurückerobert, für das die russischen Truppen zwei Monate brauchten.
Dabei erweckte die Ukraine vor Kurzem noch den Anschein, in der Südregion Cherson groß angelegte Gegenangriffe zu planen. Dass die Ukraine jetzt vor allem im Osten zurückschlägt, hat die russische Armee völlig überrumpelt. „Die Russen waren sehr überrascht von der Offensive in Charkiw und hatten keine operative Reserve an Landstreitkräften, um die eroberten Gebiete zu verteidigen“, sagt der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Die große Ablenkung durch eine angebliche Offensive im südlichen Cherson ist der Ukraine geglückt.“
Russische Truppen im Süden können nicht eingreifen
Russland hat laut dem Experten viele Kräfte über den Dnipro in den Süden verschifft, die dort wegen zerstörter Brücken und Fähren jetzt nicht so leicht wieder zurückkommen können. Fallschirmjäger und andere wichtige Einheiten Russlands befänden sich dort und seien abgeschnitten. „Die große Gefahr für die Russen ist, dass ihnen schon bald die Munition ausgeht.“
Dann könnten laut Gressel 25.000 russische Soldaten in Kriegsgefangenschaft kommen. „Das wäre eine enorme Schwächung für die russische Armee in der Ukraine und ein schwerer Schlag, von dem sich Russland nicht so schnell erholen wird.“
Tempo der Rückeroberung überrascht Experten
Die ukrainischen Streitkräfte operieren im Raum Cherson offenbar in mehrere Richtungen, heißt es im Lagebericht des Militär-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW). Brücken, Munitionsdepots und mehrere Kommando- und Kontrollposten sollen zerstört worden sein. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht, da die Ukraine an ihrer Informationssperre zu Angriffen im Süden festhält.
Währenddessen reißen die ukrainischen Streitkräfte in der Region Charkiw die russischen Verteidigungslinien mit einem Tempo ein, das viele Expertinnen und Experten überrascht. Dort verfügen die Russen offenbar zurzeit nicht über die Kampfkraft, den Vormarsch der Ukraine aufzuhalten. Es fehlt an Landstreitkräften, die Russlands eroberte Gebiete verteidigen.
Selbst im Hinterland von Charkiw geraten russische Besatzer laut ISW in Panik und haben mit Evakuierungen begonnen, Bodenkonvois und Transporthubschrauber sollen im Einsatz sein. Der Zusammenbruch der russischen Front hat demnach begonnen. John Spencer vom Modern War Institute an der US-Militärakademie West Point spricht von der „größten Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg“.
Kreml spricht von Umgruppierung der Streitkräfte
Hektisch hat die russische Armee nun damit begonnen, Truppen aus dem Süden in Richtung Charkiw zu verlegen. Man gruppiere die Streitkräfte neu, hieß es aus dem Kreml. Von „schwierigen Kämpfen“ sprach der putintreue Separatistenanführer der Donbass-Region Donezk.
„Es wird für Russland schwierig (nicht unmöglich) sein, auf das derzeitige ukrainische Operationstempo zu reagieren“, so die Einschätzung des australischen Militärexperten Mick Ryan vom Center for Strategic and International Studies (CSIS). Er sieht in der Umverteilung der russischen Soldaten zudem weitere Chancen für die Ukraine, die Russen mit gezielten Schlägen hart zu treffen.
Bis die russischen Truppen im Osten angekommen sind, dürfte es noch Tage dauern. Bis dahin versuche Russland aus der Luft die ukrainischen Panzer zu stoppen, so ECFR-Experte Gressel. Wie stark die russischen Luftangriffe die Offensive der Ukraine verlangsamen, lasse sich nicht abschätzen. „Im Raum Charkiw setzt die Ukraine aber auf den Gepardpanzer aus Deutschland, um seine Panzerspitzen vor Angriffen aus der Luft zu schützen.“ Die 20 deutschen Gepardpanzer in der Ukraine „machen einen Unterschied“, sagte auch Außenministerin Annalena Baerbock am Samstag bei ihrem Besuch in Kiew.
Krieg in der Ukraine: Frontlinien verschieben sich
In der Spitze um 50 bis 70 Kilometer haben die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen die Frontlinie in der umkämpften Region Charkiw verschoben. Dort haben sie einen Kessel gebildet, in dem sich laut Gressel noch etwa 10.000 russische Soldaten befinden. Für sie gibt es kaum eine Möglichkeit zur Flucht. Denn nach Kupjansk kommt ein großer Stausee und der Fluss Oskol, dessen Brücken die Ukrainer längst zerstört haben.
„Die Russen stehen mit dem Rücken zum Fluss und können kaum entkommen“, so Gressel. Ein großer Teil von ihnen könnte in den nächsten Tagen in Kriegsgefangenschaft kommen. Die nächsten Ziele der ukrainischen Armee dürften Lyssytschansk und Sjewjerodonezk sein.
Vielfach angekündigte Großoffensive nun da?
Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin wäre es eigentlich an der Zeit, den Verteidigungsminister und den Generalstabschef zu feuern, so die Einschätzung von Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. „Das wäre aber auch ein Eingeständnis, dass mit der ‚Spezialoperation‘, anders als behauptet, nicht alles nach Plan verläuft.“ Mangott führt als einen der Gründe für die militärischen Niederlagen im Osten auch Ausbleiben der Generalmobilmachung in Russland an. „Aber Putin fürchtet, die Unterstützung für die Invasion könnte drastisch einbrechen, wenn Väter, Söhne und Enkel in den Krieg eintreten müssen.“
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ECFR-Experte Gressel ist sich inzwischen sicher: „Die Großoffensive der Ukraine ist da.“ Bei den Angriffen in Charkiw handele es sich um die von Selenskyj vielfach angekündigte Großoffensive, um die Kriegswende noch vor dem Winter zu erreichen. Dem Experten zufolge seien weitaus mehr Kräfte an der großen Offensive beteiligt, als offiziell genannt wurden. „Die Ukraine setzt die Kronjuwelen der ukrainischen Armee in Charkiw ein, vor allem die Luftsturm- und Luftlandebrigaden.“ Sie seien eindeutig das Schwergewicht der ukrainischen Armee.
Ukrainische Truppen auf dem Vormarsch
Laut dem ISW-Lagebericht hat die Ukraine etwa 2500 Quadratkilometer im Gebiet Charkiw zurückerobert. Allein in diesem Monat habe die ukrainische Armee laut Präsident Wolodymyr Selenskyj 2000 Quadratkilometer in der gesamten Ukraine befreit. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht. Im Vergleich mit den 125.000 Quadratkilometer, die Russland nach eigenen Angaben erobert hat, ist die Rückeroberung erst am Anfang.
Doch wie groß die Geländegewinne auch tatsächlich sind, ist ohnehin zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr, dass die Ukraine strategisch wichtige Ziele angreift und einnimmt. Dazu zählt auch der Eisenbahnknotenpunkt Kupjansk. „Durch die Eroberung von Kupjansk behindert die Ukraine jetzt Russland massiv dabei, Truppen zu bewegen und Munition an die Front zu bringen“, erklärt Experte Gressel. „Der russischen Armee droht ein sehr, sehr ungemütlicher Winter.“