Russischer Deserteur in Köln„Ich will keine Menschen töten“
- Viktor und Alexej kommen aus unterschiedlichen Ecken in Russland und sind nach Belgrad und Köln geflohen.
- Beide jungen Männer aber sind geflohen – um nicht wie so viele andere im brutalen Krieg in der Ukraine zu enden.
- Was sie erzählen, was die Politik verspricht und wie eine Ukrainerin über das Thema denkt.
Köln/Bergrad/Berlin – Alexej floh aus Moskau. Viktor aus St. Petersburg. Alexej verließ seine Heimat einen Tag, nachdem in Russland am 21. September die Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten ausgerufen wurde. Er beantragte ein deutsches Visum und gab dafür seinen Pass im Moskauer Visazentrum ab.
Viktors Entschluss zu fliehen hing an einem Stück Papier. In großen Buchstaben oben mittig prangt das Wort „Einberufungsbescheid“. Am 24. September hatte er sich zwischen 9 und 15 Uhr beim Militärkommissariat in St. Petersburg zu melden. Mit seinem Reise- und Wehrpass. Er war also einer der 300.000, die Putins sogenannte Spezialoperation voranbringen sollten. Er sagt selbst, dass er Russland durchaus als Soldat verteidigt hätte, wenn es jemals zu einem Angriff auf sein Land gekommen wäre. Putins Terror gegen die Ukraine jedoch ist nicht sein Krieg. Viktor war sich sicher: Sollten sie ihn zwingen, sollte er überleben, würde er danach „nie wieder ein normales Leben führen können“.
Alexej und Viktor: Zwei Wege raus aus Russland
Ganz unabhängig voneinander machen sich beide Männer auf den Weg heraus aus Russland. Beide wollen über Kasachstan fliehen. Ihr Alltag hätte bis zu diesem Punkt nicht unterschiedlicher sein können. Jetzt ist ihr gemeinsames Ziel auf getrennten Wegen die Flucht aus dem Vaterland.
Alexej ist 24 Jahre alt, er hat in Moskau Physik und Mathematik studiert, später arbeitete er als Tontechniker beim unabhängigen Radiosender „Echo Moskau“, der am 1. März wegen seiner Berichterstattung zum russischen Überfall auf die Ukraine von den Behörden vom Netz genommen wurde.
Viktor ist ein 46-jähriger Hafenarbeiter aus Perm im Ural. Nach dem frühen Tod seiner Tochter ist die Familie zerbrochen. Vor einigen Jahren ist er für die Arbeit nach St. Petersburg gezogen. Viktor und Alexej möchten ihre wirklichen Namen nicht veröffentlicht wissen. Zu groß ist die Angst vor Konsequenzen. Für sie selbst oder für die Daheimgebliebenen.
Alexej ist in Köln, Viktor in Belgrad
Alexej kam am 25. September in Kasachstan an, einen Tag zuvor sollte sich Viktor zur Waffe melden. Aber auch er hat es nach Kasachstan geschafft. „Ich habe das Auto genommen. An der Grenze zu Kasachstan habe ich einen Kasachen getroffen. Mit ihm zusammen habe ich die Grenze an einem kleinen Checkpoint überquert.“ Die großen Übergänge seien zu dem Zeitpunkt schon überfüllt gewesen, es gab Gerüchte von Zurückweisungen. „Ich hatte Angst, dass ich es vielleicht nicht schaffe.“
Für Alexej ging es aus Kasachstan direkt nach Deutschland. Freunde hatten ihm seinen Pass mit dem Visum für die Bundesrepublik nach Almaty gebracht. „Am Ende gelang es mir, einen Direktflug von Almaty nach Frankfurt zu finden und am 7. Oktober war ich dann hier.“ „Hier“, das ist Köln, wo Alexej zunächst bei Freunden eine Bleibe gefunden hat.
Viktors „Hier“ ist aktuell Belgrad. Über Georgien schaffte es der 46-Jährige, sich mit Auto-, Zugfahrt und Flügen nach Serbien durchzuschlagen. Mit seinem Geld kommt er noch „etwa drei Monate“ hin, sagt er. Leisten könnten sich eine solche Flucht nicht viele Russinnen und Russen. Neben den Reisekosten und Rücklagen für die Ankunft im neuen Land lassen sich Schleuser Grenzüberfahrten gut bezahlen. „Viele machen es trotzdem. Denn es ist besser, schlecht zu leben, als zu sterben“, sagt Viktor.
„Ich will nicht getötet werden und ich will nicht töten“
Im Gegensatz zu Viktor ist Alexej kein Deserteur, denn er wurde ja noch gar nicht in die Armee eingezogen. Aber er sagt: „Ich möchte nicht der russischen Armee beitreten, weil der Krieg, den Russland führt, sinnlos und kriminell ist. Die Ziele dieses Krieges, die von Putin verkündet wurden, haben nichts mit den Interessen der russischen Bürger zu tun.“ Auch Viktor weiß, dass viele seiner Mitbürger, wie er selbst, diesen Krieg nicht unterstützen. „Man kann nur nicht offen darüber sprechen.“
Dieser Krieg bringe nur Schmerz und Zerstörung für alle seine Teilnehmer, sagt der 24-jährige Alexej und fügt hinzu: „Ich will keine Menschen töten. Ich will nicht selbst in diesem sinnlosen Krieg sterben. Niemand hat mein Land angegriffen.“ Und auch Viktor sagt: „Ich will nicht getötet werden und ich will nicht töten.“
„Die sind nicht gegen das Putin-Regime“
Dina Kuzmina kennt Alexejs und Viktor Schicksale nicht, aber sie wird schnell emotional, wenn das Thema auf russische Kriegsdienstverweigerer in Deutschland kommt. „Ich finde das nicht richtig. Diese Leute waren bis jetzt nicht gegen den Krieg, oder er war ihnen egal“, sagt die Ukrainerin. Sie engagiert sich schon seit 2015 ehrenamtlich im Verein Ukraine-Hilfe Berlin e. V. und ist überzeugt: „Die sind nicht gegen das Putin-Regime, die wollen bloß nicht an die Front.“
Die 55-Jährige arbeitet hauptberuflich als Dolmetscherin, stammt eigentlich aus der schwer vom Krieg gezeichneten Millionenmetropole Charkiw und lehnt die Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer in Deutschland ab. „Jetzt, wo es um ihre eigene Haut geht, wollen sie plötzlich Russland verlassen und Zuflucht im Westen suchen“, sagt Kuzmina. Aber in Wahrheit seien sie vorher alle mit dem „Z“ auf den Autos herumgefahren, jenem Siegessymbol der Putin-Anhänger.
Deserteur Viktor kann die Bedenken nachvollziehen. Auch er spricht sich gegen eine Öffnung der deutschen Grenzen für alle russischen Kriegsdienstverweigerer aus. „Hier muss im Einzelfall entschieden werden. Man muss die russischen Deserteure interviewen, um herauszufinden, auf welcher Seite der Geschichte sie stehen. Ob sie Putin-Anhänger sind oder nicht.“
„Wir brauchen offene Grenzen für diese Leute“
Der Verein Connection e. V. in Offenbach setzt sich mit seinen bundesweit 200 Mitgliedern seit 30 Jahren aktiv für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ein. Nach seinen Schätzungen haben bislang etwa 150.000 Russen im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 das Land verlassen, aus Angst, zur Armee eingezogen zu werden.
Die meisten von ihnen flohen nach Kasachstan, dort geht man von 90.000 aus, oder in andere ehemalige Sowjetrepubliken, wo Russen keine Visa benötigen, wie Georgien oder Armenien. „Wir brauchen offene Grenzen für diese Leute“, sagte Connection-Geschäftsführer Rudi Friedrich im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) und kritisiert die „Lippenbekenntnisse“ der EU und Deutschlands in dieser Frage.
In ganz Westeuropa seien im ersten Halbjahr von Russen im wehrpflichtigen Alter etwa 1000 bis 1500 Anträge auf Asyl gestellt worden, sagt Friedrich. Runtergerechnet auf Deutschland seien das „vielleicht 300″.
Politiker haben falsche Hoffnungen gemacht
Für diese vergleichsweise geringen Zahlen gibt es Gründe: Zwar hatte EU-Ratspräsident Charles Michel Anfang April russische Soldaten zum Desertieren aufgerufen und ihnen Asyl in Aussicht gestellt, aber passiert ist bislang nichts. „Wenn ihr euch nicht dazu hergeben wollt, eure ukrainischen Brüder und Schwestern zu töten, wenn ihr keine Verbrecher sein wollt, werft eure Waffen weg, hört auf zu kämpfen, verlasst das Schlachtfeld“, hatte Michel in Straßburg an die Russen gewandt gesagt.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte Hoffnungen gemacht: „Wer sich dem Regime von Präsident Wladimir Putin mutig entgegenstellt und sich deshalb in größte Gefahr begibt, kann in Deutschland wegen politischer Verfolgung Asyl beantragen“, sagte sie im September der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Starkgemacht haben sich viele, der Antrag aber fiel durch
Nach der Teilmobilmachung in Russland haben sich viele Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen im Bundestag für eine erleichterte Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer ausgesprochen. Dennoch fiel ein entsprechender Antrag der Linksfraktion Ende September bei der Abstimmung durch.
Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, sagte dazu dem RND: „Die Ampel agiert maximal heuchlerisch. Unseren Antrag, gegen den inhaltlich rein gar nichts einzuwenden war, abzulehnen, nur weil er von der Linken kommt, ist ja das eine. Aber dann gleichzeitig in völliger Untätigkeit zu verharren, das geht gar nicht.“ Die Bundesregierung müsse jetzt dringend humanitäre Visa für Deserteure bereitstellen, damit diese in Deutschland einen Asylantrag stellen können. Die Linke hatte gefordert, russischen Kriegsdienstverweigerern „eine sichere Einreise in die EU bzw. nach Deutschland“ zu ermöglichen und ihnen unkompliziert Schutz und Aufenthaltsstatus zu gewähren.
Kriegsdienstverweigerern drohen Strafen in Russland
Darauf hofft auch Viktor. Zwar hat er in Montenegro eine Wohnung und auch einen Arbeitsplatz in Aussicht, ein Bekannter habe da etwas möglich gemacht. Doch kennt er dort, wo er dann leben und arbeiten, einen Alltag aufbauen soll, niemanden. Anders wäre es in Deutschland. Dort lebt sein Bruder mit seiner Familie. „Ich brauche Bezugspersonen, Unterstützung in einem neuen Land. Zum Überleben braucht man mehr als ein Dach über dem Kopf und Verpflegung. Ich will mich integrieren können.“
Viktor ahnt, dass er so schnell wohl nicht in sein Heimatland zurückkehren wird. „In der jetzigen Situation will ich nicht zurück. Das will ich erst dann, wenn es wirklich eine unabhängige Justiz gibt und der Staat zum Wohle der Menschen arbeitet.“ Ganz zu schweigen von der Strafe, die dem 46-Jährigen droht, wenn er als Kriegsdienstverweigerer in Putins Russland zurückkehrt.
Dass es bislang keine sicheren Einreisemöglichkeiten für Deserteure aus Russland gibt, kritisiert auch der Verein Connection: „Was von politischer Seite bisher gemacht wurde, ist völlig unzureichend“, sagt Geschäftsführer Friedrich. „Es kommt ja faktisch niemand zu uns herein, es sei denn, er konnte noch ein Touristenvisum ergattern“, erläutert Friedrich.
Vor dem Asylantrag steht die Einreise
Tatsächlich müssen Russen, um einen Asylantrag in Deutschland stellen zu können, zunächst erst einmal einreisen. Es ist auch nicht möglich, dies in der deutschen Botschaft in einem Drittland wie etwa Kasachstan zu tun. EU-Länder mit direkter Grenze zu Russland haben schon seit einiger Zeit die Einreise gestoppt oder massiv erschwert. Und auch Deutschland tritt bei der Vergabe von Visa massiv auf die Bremse. Die baltischen Länder und Polen halten gar nichts von russischen Kriegsdienstverweigerern.
Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis etwa schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter: „Litauen wird denen kein Asyl gewähren, die einfach vor der Verantwortung davonlaufen. Die Russen sollten bleiben und kämpfen. Gegen Putin.“ Viktor fragt sich: „Wie kann man als einfacher Mann in einem Volk voller Angst gegen einen solchen übermächtigen Unterdrückungsapparat kämpfen?“
In einem Bericht des Bundesinnenministeriums vom 11. Mai heißt es, dass eine Desertion „als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung“ und „als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden“ und damit die „Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes“ gewährt werden kann. Das Problem ist, dass Russen, die es nach Deutschland schaffen, wie etwa Alexej oder Viktor, hier nur sehr schwer den Nachweis erbringen können, dass sie fahnenflüchtig sind. Wer zu Hause verschwindet, wenn der Einberufungsbefehl im Briefkasten liegt, der ist noch kein Deserteur, denn er war ja noch gar nicht in der Armee.
„Wir finden völlig unzureichend, was der Ministeriumsbericht besagt, denn ein Großteil der Menschen, die zu uns kommen, sind dadurch gar nicht geschützt“, kritisiert Rudi Friedrich. Wer sich Putins Mobilmachung durch Flucht entzieht, kann hier zwar wie jeder andere auch einen Asylantrag stellen, erhält aber nicht automatisch den umfangreicheren Flüchtlingsschutz. „Wenn man den Leuten sagt, sie sollen desertieren, dann muss man ihnen auch etwas anbieten“, sagt Friedrich. Es könne nicht richtig sein, dass „Militärdienstentzieher“ in Deutschland nachweisen müssen, dass sie eingezogen worden wären.
Ukrainische Deserteure gehen kaum an die Öffentlichkeit
Friedrich legt Wert darauf, dass Connection eine Organisation ist, die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus allen Ländern unterstützt. Ausgehend von Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, wonach etwa vier Millionen Ukrainer in Westeuropa registriert sind, geht Connection von rund 140.000 ukrainischen Wehrpflichtigen aus, die sich ebenfalls dem Kriegsdienst entzogen haben. „Für sie drängt das Problem derzeit hier nicht so“, sagt Friedrich, „weil es für alle ukrainischen Staatsbürger einen humanitären Aufenthaltstitel gibt.“ Dennoch drohe auch ihnen in ihrer Heimat Ungemach, denn die Ukraine habe das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt und es seien deswegen auch schon Menschen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
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In der jüngsten Nummer seines Rundbriefs „Kriegsdienstverweigerung im Krieg“ (KDV) listet der Connection-Verein auf, dass die ukrainischen Behörden bis Ende Juli 5000 Strafverfahren gegen Militärdienstentzieher und Deserteure eröffnet haben. Darüber hinaus gebe es 8000 Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts. Ukrainische Deserteure würden es kaum wagen, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie sich als Verräter gebrandmarkt sehen. Auch hier fordert Connection „eine andere Umgehensweise mit dem Teil der Bevölkerung, der nicht der Regierungspolitik zum Krieg folgt“.
Um mehr Druck auf die Politik in Brüssel und Berlin zu erzeugen, hat Connection im Internet eine Unterschriftenkampagne gestartet, mit der die Spitze der Europäischen Union um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgefordert wird, Deserteuren aus Russland und Belarus Schutz und Asyl zu geben. „Öffnen Sie die Grenzen für diejenigen, die sich unter hohem persönlichen Risiko in ihrem Land gegen den Krieg stellen!“, heißt es in dem Appell, den bislang 4279 Menschen unterschrieben haben.