Verliert der Kreml die Kontrolle?Russlands Hardliner planen ihren eigenen Krieg
Wenn militärisch nichts mehr geht, müssen Helden her. In Russland hat das Tradition. Früher hießen sie Stachanow oder Ljudmila Pawlitschenko, standen in der Produktion oder als Scharfschützin an der Front gegen Hitlers Armeen ihren Mann oder ihre Frau. Heute ist Igor Girkin, Kampfname Strelkow, der Mann, der den ultranationalistischen Russen derzeit das gibt, was Meldungen von der Ukraine-Front nicht vermögen: Hoffnung. Den 750.000 Followern seiner Messaging-App teilte er jüngst mit: „Seit dem 14. Oktober 2022 bin ich in der aktiven Armee.“ Dazu wurde ein Foto gepostet, das ihn Andeutungen zufolge in der Ukraine zeigen soll.
Girkins Popularität in Russland ist vielleicht vergleichbar mit der des „Wüstenfuchses“ Erwin Rommel in Nazi-Deutschland. Er soll bereits im Bosnienkrieg Anfang der 1990er-Jahre auf serbischer Seite gekämpft haben und später im Tschetschenienkrieg. Überprüfbar sind solche biografischen Details aber nicht, ebenso nicht, ob er tatsächlich ein Reserveoberst des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB war und ob er noch heute dem Militärnachrichtendienstes GRU dient.
Girkin als Kriegsverbrecher gesucht
Jetzt soll sich Girkin mit dem Chef der Wagner-Söldner Jewgeni Prigoschin zusammengetan haben, der gern auch mal als „Putins Koch“ bezeichnet wird, weil er viel Geld mit Schulkantinen und Catering für den Kreml verdient hat. Das Institute for the Study of War (IWS) zitiert russische Militärblogger, die berichten, dass Prigoschin wohl ein Freiwilligenbataillon aufstellt und der populäre Girkin dafür Kämpfer rekrutiert.
Im Westen und in der Ukraine wird Girkin als Kriegsverbrecher gesucht. 100.000 Dollar hat die Ukraine auf den Kopf Girkins ausgesetzt, eine Summe, die durch eine nationale Crowdfundingkampagne, an der sich auch Personen des öffentlichen Lebens wie Sportler und lokale Politiker mit Privatvermögen beteiligten, auf mehr als 150.000 US-Dollar erhöht wurde.
Girkrin verantwortlich für Abschuss von malaysischen Passagierflugzeug
Girkin brüstet sich damit, dass es ohne ihn in der Ostukraine nie zum Krieg gekommen wäre. 2014 war der gebürtige Moskauer „Verteidigungsminister“ der russischen Militärbesatzung in der selbsternannten Volksrepublik Donezk, einem schmalen Streifen in der Ostukraine, den Moskau für die Abtrennung vorgesehen hatte. Girkin wird persönlich für Hunderte Morde verantwortlich gemacht. Er soll vielfach Exekutionen angeordnet haben, das belegen Dokumente, und laut eigenen Angaben hat er auch mindestens einmal selbst geschossen.
Girkin gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs (Flug MH-17) über der Ukraine 2014. Damals gelang es den Russen, mehrere ukrainische Kampfjets abzuschießen. Girkin und seine mitangeklagten Helfer sollen laut der internationalen Untersuchungsbehörde ein Raketensystem von Russland über die Grenze in die Ukraine gebracht haben. Damit trafen sie im Juli 2014 eine Boeing der Malaysia Airlines mit 298 Menschen an Bord.
Am 17. November Urteil in Den Haag erwartet
Das niederländische Gericht soll am 17. November sein MH17-Urteil gegen Girkin und drei weitere Angeklagte verkünden, die alle auf freiem Fuß sind. Girkin, der unter dem Spitznamen Igor Strelkov bekannt ist, sagte zuvor, er fühle sich „moralisch verantwortlich“ für den Tod der 298 Menschen an Bord des Flugzeugs, weigerte sich jedoch zuzugeben, den Passagierjet abgeschossen zu haben.
Mehr als acht Jahre nach dem Abschuss soll am 17. November das Urteil gegen die vier mutmaßlichen Hauptverantwortlichen verkündet werden, teilte das zuständige niederländische Strafgericht in Den Haag mit. Der 51-jährige Girkin ist einer der in Abwesenheit Angeklagten. Damals wurde Girkin abgesetzt und gilt seitdem als einer der radikalsten Kremlkritiker. Er beschimpfte Präsident Wladimir Putin als Intriganten, der einem mafiösen System vorstehe.
Putin als „Clown“ bezeichnet
All das begründet Girkins Heldenstatus in Russland. Wie sonst nur Wagner-Chef Prigoschin oder Tschetschenien-Präsident Ramsan Kadyrow konnte er es sich von Beginn des Krieges an leisten, die russische Führung und auch Präsident Wladimir Putin zu kritisieren – teilweise in drastischen Worten. Im August bezeichnete er Putin als „Clown“. Doch auch innerhalb der „Falken“ gibt es Spannungen. Girkin und Prigoschin sollen sich angeblich von Kadyrow distanziert haben, wie das Institute for the Study of War (IWS) schreibt.
Kadyrow schaffe es einerseits nicht, seine oft großmäuligen Ankündigungen auch in eine Zustimmung durch die eigenen Landsleute umzusetzen. In Tschetschenien soll es zunehmend Widerstand gegen den „Blutzoll“ geben, den junge Männer an der Front entrichten. Andererseits gilt Kadyrows Hilfe für Putin zwar als plakativ, aber im Kampf als wenig effizient, wie ein aktueller Vorfall zeigt, bei dem viele tschetschenische Kämpfer starben, weil sie ihren Aufenthaltsort prahlerisch via Telegram bekannt gegeben hatten.
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Die „Washington Post“ schreibt, Prigoschin habe die Ansicht geäußert, dass sich das russische Verteidigungsministerium zu sehr auf Wagner verlasse und der Söldnergruppe nicht genügend Geld und Ressourcen zur Verfügung stelle, um ihren Auftrag in dem Konflikt zu erfüllen.
Girkins und Prigoschins Aktivitäten am Kreml vorbei sind ein deutliches Zeichen ihres Ärgers über den derzeitigen Kriegsverlauf und der Missachtung des militärischen Oberkommandos. Für Präsident Wladimir Putin wächst hier eine Gefahr von rechts, die durch eine neue, verordneten „Ehrlichkeit“ in den Medien unterfüttert wird. „Wir müssen aufhören, auf allen Ebenen zu lügen, überhaupt überall in unserem Land: in Banken, Ministerien, Wehrdienststellen, Fabriken, Schulen, Universitäten, Medienorganisationen“, erklärte ausgerechnet Margarita Simonjan, die Chefredakteurin von Putins Propaganda-Sender Nummer eins RT, Anfang Oktober. Lügen führten stets zu „Fehlentscheidungen“ und „nicht wiedergutzumachenden Verlusten“. Geändert hat sich seitdem nicht viel, nur dass sie die nicht zu leugnenden militärischen Rückschläge einräumt – von einem Krieg aber immer nicht sprechen will.
Schon kurz nach dem Überfall auf die Ukraine kritisierte Girkin, der Kreml zeige nicht genug Härte. Das Ganze werde mit einer „vollständigen Niederlage Russlands“ enden, prophezeite er. „Wir haben schon verloren, es ist nur eine Frage der Zeit“ – so seine düstere Vorahnung. Verurteilt im Westen, per Fahndung gesucht durch die Ukraine – Girkin weiß, was eine Niederlage Russlands für ihn bedeuten würde. Angeblich habe er sich in den Frontabschnitt bei Cherson begeben – dahin, wo eigentlich für ihn nichts zu gewinnen ist.