Lange sah es so aus, als ob Russland und der Westen verlässliche Partner würden. Heute stehen sie sich ähnlich feindlich gegenüber wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Wie die russische Diplomatie an Einfluss verlor – und Wladimir Putin zunehmend beratungsresistent wurde.
RusslandAls Putin sogar einen Nato-Beitritt für möglich hielt
Warum ist es auf zwischenstaatlicher Ebene nun fast anderthalb Jahre lang nicht gelungen, die Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine mit friedlichen Mitteln zu beenden? Der russischsprachige Dienst der BBC stellte sich der Frage, indem er mit Beobachtern, Politologen und ehemaligen Regierungsmitarbeitern sowohl aus Russland als auch aus den USA sprach. Die kurze Antwort der BBC lautet: Russische Diplomaten biederten sich in der seit bald 24 Jahre andauernden Amtszeit Putins dem Staatspräsidenten immer mehr an, während dieser zunehmend von der Irrelevanz der Diplomatie und der Effektivität schierer Gewaltanwendung zur Erreichung politischer Ziele überzeugt war.
Die längere Antwort der BBC ist eine Geschichte von Fehlern auf beiden Seiten, der gefühlten Zurückweisung im russischen und der Frustration im westlichen Lager. Dabei ließ sich das Verhältnis zwischen der russischen Staatsspitze und dem Westen zunächst gut an: „Russland ist bereit, mit der Nato zusammenzuarbeiten (...), bis hin zum Beitritt zum Bündnis“, sagte Präsident Wladimir Putin der BBC in einem Interview von Anfang März 2000. „Ich schließe eine solche Möglichkeit nicht aus (...) für den Fall, dass Russland (…) als ein gleichberechtigter Partner angesehen wird. Russland ist ein Teil der europäischen Kultur, und ich betrachte mein Land nicht als etwas Losgelöstes von Europa und von dem, was wir oft als zivilisierte Welt bezeichnen“, erklärte er. „Daher fällt es mir schwer, mir die Nato als Feind vorzustellen.“
Haftbefehl gegen Putin
Gut 23 Jahre nach diesen Worten sieht die Welt allerdings genauso aus, wie es sich Putin damals nicht vorstellen konnte: Derzeit ist es etwa unmöglich, mit dem Flugzeug direkt von westlichen Ländern nach Russland oder in umgekehrter Richtung zu fliegen. Es wurden Sanktionen gegen russische Beamte, Oligarchen und Staatsunternehmen verhängt. Eine breite Koalition von Staaten leistet der Ukraine militärische Unterstützung. Russland wurde aus dem Europarat ausgeschlossen – und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag erließ einen Haftbefehl gegen Putin.
Dass der russische Staatsführer sein Land im Jahr 2000 als Teil der zivilisierten Welt verstand, waren nicht nur leere Worte. Moskau bemühte sich damals tatsächlich, Konflikte mit Mitteln der Diplomatie und vor allem friedlich zu lösen: Als es 2003 in Georgien zur „Rosenrevolution“ kam, vermittelte der damalige russische Außenminister Igor Iwanow persönlich einen unblutigen Übergang der Macht.
Ebenfalls im Jahr 2003 einigte sich Russland mit der EU auf vier gemeinsame Sphären – in den Bereichen Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Sicherheit –, in der Folge noch auf dem Gebiet der Modernisierung. Im Jahr 2004 legte Russland einen Territorialstreit mit China bei, und unter der Präsidentschaft Dmitrij Medwedews verständigten sich Russland und Norwegen 2010 auf eine gemeinsame Seegrenze in der Barentssee, über deren Verlauf die zwei Länder 40 Jahre lang gestritten hatten. Der Politologe Alexander Gabuev, Direktor des Carnegie Russia Eurasia Centers in Berlin, erklärte gegenüber dem russisch-sprachigen Dienst der BBC, dass die russischen Diplomaten während der ersten beiden Amtszeiten Putins als Präsident tatsächlich einige bemerkenswerte Vermittlungsergebnisse erzielt hätten.
Ein Gesprächspartner der BBC, der seinen Namen nicht öffentlich machen wollte und in den 2000er-Jahren im Kreml arbeitete, erinnert sich aber auch daran, dass in jenen Jahren zunehmend Leute „mit wenig Kreativität und kritischem Denken“ zum russischen diplomatischen Korps gestoßen seien. Dort hätten sie aufgrund des herrschenden bürokratischen Tonfalls auch gut hingepasst: „Der Botschafter schreibt über sich selbst immer in der dritten Person. Dieser Jargon impliziert eine gewisse Distanz. Sie sind wie Soldaten in der Armee.“
Im Jahr 2004 wurde Putin von Mitarbeitern Sergej Lawrow für das Amt des Außenministers vorgeschlagen. Lawrow galt als Botschafter Russlands bei den Vereinten Nationen in New York als weltläufig und als Kenner der USA und auch Europas. Selbst im Westen war er in Diplomatenkreisen hoch anerkannt.
Lawrows Metamorphose
Doch inzwischen macht Lawrow nur noch mit undiplomatischen Ausfällen gegenüber dem Westen von sich reden, von denen er nicht einmal Papst Franziskus ausnimmt. Der einst respektierte Diplomat ist zum reinen Sprachrohr Putins herabgesunken.
Wie konnte es dazu kommen? Boris Bondarew, ehemaliger russischer UN-Diplomat in Genf, der wegen seines Rücktritts nach dem militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine für internationales Aufsehen sorgte, hat Lawrows Metamorphose innerhalb des Apparats mitverfolgt. Dieser habe sich zusammen mit Putin verändert, was unvermeidlich gewesen sei. Denn es gebe kein Land auf der Welt, dessen Spitzendiplomat mit dem Präsidenten nicht übereinstimme und trotzdem auf seinem Posten bleibe.
Charmeoffensive Barack Obamas
Lange sah es so aus, als ob sich das Verhältnis zwischen den USA und Russland, das durch außenpolitische Hardliner in der Amtszeit George W. Bushs (2001–2009) wie Richard Perle und Paul Wolfowitz belastet worden war, unter Bushs Nachfolger Barack Obama (2009–2017) reparieren lassen könnte. Bei Obamas erstem Besuch in Moskau im Juli 2009 stimmte der russische Präsident Dmitri Medwedew, der für Putin zwischen 2008 und 2012 den Präsidentensessel warmhielt, zu, dass US-Waffen und -Personal auf dem Weg nach Afghanistan den russischen Luftraum nutzen durften. Dies war eine große Entlastung für die US-Truppen, die den größten Teil ihres Nachschubs über die Todesfalle des pakistanischen Chaiber-Passes transportieren mussten. Da sie ohne Gegenleistung gewährt wurde, sah der Deal nach mehr als dem üblichen Kuhhandel aus. Es war eine Geste des guten Willens.
Weniger als drei Monate später gab es einen weiteren Durchbruch. Am 17. September 2009 ließ Obama den Plan der Bush-Regierung fallen, ein Raketenschild in Osteuropa zu errichten, der von Russland als eklatante militärische Bedrohung kritisiert worden war. Selbst Putin würdigte diese Geste.
Ein symbolischer Reset-Knopf
US-Außenministerin Hillary Clinton hatte Obamas Charmeoffensive vorbereitet, als sie ihrem Amtskollegen Lawrow im März 2009 einen symbolischen Reset-Knopf für die russisch-amerikanischen Beziehungen überreichte. Die beiden Länder gründeten in der Folge die Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft, ein Forum zur Förderung der Zivilgesellschaft in Russland, das vom künftigen US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, und Putins damaligem stellvertretenden Stabschef, Wladislaw Surkow, geleitet wurde.
Innerhalb der russischen Regierung ging der Trend hingegen in die entgegengesetzte Richtung. Medwedew und andere Liberale hatten Vertrauen zu Obama und schienen zu Kompromissen bereit. Doch die Konservativen – vor allem Apparatschiks der alten Schule, Sicherheitschefs und ehemalige KGB-Offiziere wie Putin – begannen, ihre Zweifel an der Neuausrichtung der Beziehungen zu äußern. Dmitrij Rogosin, von 2008 bis 2011 Vertreter Russlands bei der Nato, sagte damals dem US-Nachrichtenmagazin „Time“: „Medwedew glaubt aufrichtig, dass man Obama vertrauen kann. Aber das bedeutet nicht, dass diese Einschätzung auf allen Ebenen geteilt wird, vor allem nicht dort, wo die Vereinbarungen umgesetzt werden sollen. Die Diskrepanz zwischen dem, was Medwedew verspricht, und dem, was Russland tut, hat sowohl den Geist der Reset-Strategie als auch ihre praktischen Ziele untergraben.“
Liste von Vorwürfen gegen George W. Bush
Putin hielt sich mit seiner Meinung nicht zurück, auch wenn sie von der Haltung des Präsidenten abwich: Bei seinem Treffen mit Obama bei dessen Staatsbesuch im Juli 2009 erläuterte er dem amerikanischen Präsidenten als russischer Premierminister seine Vision von der Welt. Die bestand in erster Linie in einer langen Liste von Vorwürfen gegen Obamas Vorgänger George W. Bush. „Er beklagte sich, dass er den USA nach dem 11. September die Hand gereicht habe“, sagte Obamas Redenschreiber Ben Rhodes der BBC. „Und alles, was er als Antwort erhalten habe, seien der Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag, der Krieg im Irak und die Nato-Erweiterung gewesen.“
Die US-Beamten, so Rhodes, hätten bei dem Treffen zwischen Obama und Medwedew auf diesem Staatsbesuch außerdem den Eindruck gewonnen, dass die russischen Diplomaten ihre Haltung nicht am Präsidenten (Medwedew), sondern am Premierminister (Putin) ausrichteten.
Für Washington war danach die Lage klar: Es würde keinen Reset geben. Innerhalb diplomatischer Kreise der Administration Obama kursierte vielmehr ein Witz über die US-russischen Beziehungen: „Wir haben die Schaltkreise dieser Partnerschaft definitiv überlastet.“
„Den falschen Knopf gedrückt“
Das Wort „überlastet“ war eine Anspielung auf einen Fehler, der dem US-Außenministerium mit dem Reset-Knopf unterlaufen war. Die Beamten des State Departments hatten auf dem roten Knopf das russische Wort für „reset“ schreiben wollen, doch stattdessen lautete die Aufschrift auf Russisch „überlastet“. Bei der Übergabe musste sich Clinton von Lawrow diesbezüglich belehren lassen. Die US-Außenministerin versuchte, die peinliche Situation mit einem Scherz zu retten, und ihr russischer Amtskollege und sie drückten trotzdem auf den Knopf. „So hat sich die Sache also entwickelt“, sagte Rogosin dem „Time“-Magazine“ daraufhin. „Sie haben den falschen Knopf gedrückt, und mit der Zeit wurden die Beziehungen überlastet. Bis jetzt wurde der richtige Knopf noch nicht bedient.“
McFaul und Rhodes zufolge waren drei Gründe dafür ausschlaggebend, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht verbessern ließen. Sie spielten sich alle etwa zur selben Zeit ab: der Arabische Frühling 2011, die US-Intervention in Libyen 2011 – die Putin zu der Überzeugung brachte, dass Washington andere Regime stürzen wolle – und die Massenproteste gegen Putin in Moskau von 2011 bis 2012, hinter denen nach dessen fester Überzeugung die USA steckten.
Putin traf jede Entscheidung allein
Laut BBC hätte der „letzte rettende Strohhalm“ für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in der Klärung des Donbass-Konflikts 2014 bestehen können. Doch das russische Außenministerium habe zwar weiterhin mit seinen amerikanischen Kollegen über bestimmte Sicherheitsfragen kommuniziert, aber jedem im Westen war klar, dass die russischen Diplomaten keinen Einfluss mehr auf die Ereignisse in der Ukraine hatten. Putin habe alle Entscheidungen selbst getroffen. Carnegie-Experte Gabuew zufolge hatte Putin sich selbst im Laufe der Jahre immer stärker davon überzeugt, dass er „schon alles weiß“ und daher keine Diplomaten brauche.
Der russische Außenminister Lawrow bekam dies zu spüren, als Russland seine Truppen in die Ukraine entsandte. Er war der erste zivile Beamte, der davon erfuhr, allerdings erst in der Nacht des 24. Februar 2022, also nur wenige Stunden vor Beginn der sogenannten „Spezialoperation“.
Wie die „Financial Times“ ein Jahr später herausfand, traf Lawrow nach einer Arbeitssitzung im Kreml am selben Tag zufälligerweise auf einen Oligarchen, der ihn fassungslos gefragt haben soll, wie Putin ein so gewaltiges Unterfangen in einem so kleinen Kreis habe planen können – so klein, dass die meisten hochrangigen Beamten im Kreml, im russischen Wirtschaftskabinett und in der Wirtschaftselite nicht informiert waren. Lawrow, der selbst praktisch nichts wusste, soll lakonisch geantwortet haben: „Er hat drei Berater: Iwan der Schreckliche, Peter der Große und Katharina die Große.“ (RND)