AboAbonnieren

Immer mehr Anzeichen für Gegenoffensive„Jeder Angriff, der die Russen überrascht, ist erfolgversprechend“

Lesezeit 4 Minuten
Ukrainische Soldaten arbeiten an der Panzerkanone eines Kampfpanzers vom Typ Leopard 1 A5.

Ukrainische Soldaten arbeiten an der Panzerkanone eines Kampfpanzers vom Typ Leopard 1 A5.

In der Ukraine zeichnet sich der Beginn der Gegenoffensive ab. Die Russen arbeiten bereits auf Hochtouren daran, die Ukrainer auszubremsen.

„An den Flanken von Bachmut ist das Worst-Case-Szenario eingetreten“, schimpft Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner. „Gebiete, um die viele Monate lang gekämpft wurde, werden heute fast kampflos von den Ukrainern eingenommen“, sagt er und tobt. Die Verluste sind offenbar enorm. Zahlreiche Videos zeigen die Leichen russischer Soldaten in Schützengräben, eine Vielzahl an Kämpfern ist Hals über Kopf geflohen, Dutzende wurden gefangen genommen.

Doch nicht nur in Bachmut beginnt der Vormarsch der Russen nun zu bröckeln. Im etwa 15 Kilometer entfernten Soledar sollen ukrainische Einheiten bereits Frontlinien durchbrochen haben, wie ein russischer TV-Kriegskorrespondent und Kremlpropagandist berichtet. In der Nähe von Charkiw gebe es ebenfalls Vorstöße.

Ukrainischen Truppen bereiten sich seit Wochen auf Gegenoffensive vor

In der Nacht verdichteten sich die Hinweise auf eine weitere Militäroperation der ukrainischen Armee am Fluss Dnipro in Cherson. Dort wurde Berichten zufolge eine große Anzahl ukrainischer Kleinboote und Amphibienfahrzeuge gesichtet. Offenbar versuchen die ukrainischen Soldaten, nun am linken Dnipro-Ufer von Nova Kakhovka anzulanden. Es gibt Berichte von Schusswechseln. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte noch am Donnerstag abgewiegelt, dass die große Gegenoffensive anläuft. Klar ist jedoch, dass sich die ukrainischen Truppen seit Wochen auf den Beginn der Angriffe vorbereiten.

„Das Warten auf die Gegenoffensive zermürbt die russischen wie auch die ukrainischen Soldaten“, sagt Brigadier Philipp Eder vom österreichischen Bundesheer. „Aber Letztere müssen warten, bis westliche Ausrüstung und Munition in ausreichender Menge eingetroffen sind, das Personal ausgebildet ist und der Boden Panzerbewegungen zulässt“, so Eder im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Derzeit ist der Boden vielerorts noch zu schlammig, um mit beispielsweise einem 64 Tonnen schweren Leopard-Panzer anzugreifen.

Schon jetzt verschiebt die Ukraine offenbar einen Teil ihrer Flugabwehr in Richtung Front, um ihre Truppen für die Gegenoffensive vor Luftangriffen zu schützen. Die Vorbereitungen sind schwierig, geben sie doch dem Gegner Anhaltspunkte auf Taktiken und geplante Manöver.

Einige Truppenbewegungen sollen offenbar die Russen nur verwirren, Panik verbreiten und falsche Fährten legen. Andere kleine Operationen könnten tatsächlich Teil der Vorbereitungen für den Gegenangriff sein. „Die ukrainischen Brigaden müssen jetzt vorsichtig sein und sich verteilen, um nicht schon vor der Gegenoffensive Ziel russischer Luftangriffe oder Artillerie zu werden“, macht Eder klar.

Wagner-Chef Prigoschin: Ukrainische Gegenoffensive hat um Bachmut begonnen

Derzeit greifen die russischen Streitkräfte laut dem österreichischen Brigadier mit gezielten Luftschlägen ukrainische Truppenkonzentrationen, Treibstoff- und Munitionsdepots an, um die Vorbereitungen auf die Gegenoffensive zu behindern. „Die Orte dieser Luftangriffe können Hinweise darauf geben, wo die Ukrainer Truppen bereitstellen“, erklärt er. Dies scheine auch nördlich von Bachmut der Fall zu sein. Es sei jedoch unwahrscheinlich, dass sich die Kämpfe weiterhin so sehr auf Bachmut konzentrieren werden wie in den letzten Monaten.

Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Ukrainer ihre Gegenoffensive zunächst verschleiern werden, damit die Russen ihnen nicht so leicht etwas entgegensetzen können. Bei der Großoffensive im Herbst hatten ukrainische Einheiten immer wieder Scheinangriffe verübt oder auch mit kleinen Vorstößen nach Lücken in den Verteidigungslinien der Russen gesucht.

Die Strategie des ukrainischen Militärs war zuletzt häufig erfolgreich: Es hat in der Vergangenheit immer wieder russische Truppen von ihren logistischen Stützpunkten und Führungseinrichtungen abgeschnitten.

„Sollte die Ukraine diese Strategie weiter verfolgen, wäre ein Angriff in Richtung Melitopol und die Zugänge zur Krim militärisch sinnvoll“, so die Einschätzung von Brigadier Eder. Die Landbrücke zwischen Saporischschja, Melitopol und der Krim sei jedoch ein offensichtliches Angriffsziel, das auch den Russen bekannt sei. Denn die russischen Truppen westlich von Melitopol wären dann von der Versorgung am Landweg abgeschnitten.

Selenskyj will Krim wieder unter ukrainische Kontrolle bringen

Von der größten Herausforderung, der Eroberung der Krim, ist die Ukraine aber weit entfernt. Selenskyj hatte mehrfach betont, dass man schlussendlich auch die Krim wieder unter ukrainische Kontrolle bringen will. Ebenso ist es das erklärte Ziel der Russen, das nicht zuzulassen. Experte Eder sieht die Rückeroberung der Krim als „eine extrem große Herausforderung“ an. „Das Gelände macht es sehr schwierig, die Krim von Land aus einzunehmen“, erklärt er.

In der Geschichte gab es aber schon die Möglichkeit, die Krim vom Meer aus einzunehmen. Die Ukraine verfüge über Landungsboote und ein Angriff vom Meer wäre für die Russen sehr überraschend, sei aber gleichzeitig auch sehr riskant. „Aber jeder Angriff, der die Russen überrascht, ist erfolgversprechend.“ Denn die überraschendsten Angriffe seien oft die erfolgreichsten.(RND)