AboAbonnieren

Unzählige LeichentransporteWarum nimmt Putin ungerührt so viele tote Russen in Kauf?

Lesezeit 9 Minuten
Putin Kranzniederlegung 080622

Wladimir Putin bei einer Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten in Moskau 

  1. Schaudernd blicken westliche Militärs und Geheimdienstler auf das aktuelle Kriegsgeschehen.
  2. Die Suche nach Antworten führt zu düsteren russischen Traditionen.

Berlin – Im Brüsseler Nato-Hauptquartier gibt es Experten, die nichts anderes betrachten als die Situation in der Ukraine, Schicht für Schicht, rund um die Uhr. Uniformierte und Zivilisten tragen im Lagezentrum alles zusammen, was die Rechner von 30 westlichen Regierungen und diverser weiterer Partner hergeben: Geheimdienst­material und offen zugängliche Daten aller Art, abgefangene Funksprüche und Mails, Fotos aus militärischen und zivilen Satelliten, Chatprotokolle, Handyfotos, Drohnenvideos.Tag für Tag entsteht auf diese Art ein verblüffend präzises Gesamtbild, anders und detailreicher als die notwendigerweise immer nur ausschnitthaften Wirklichkeits­schnipsel, die die Fernsehteams zu fassen kriegen.

Allerdings schafft dieses bei der Nato erzeugte ganz eigene Bild oft auch eine ganz eigene Stimmung. Kürzlich zum Beispiel herrschte in Brüssel Beklommenheit pur angesichts von Leichentransporten in bislang ungekanntem Ausmaß.

Leichentransporte in ungekanntem Ausmaß

„Die Zahlen der Toten, mit denen wir es in letzter Zeit zu tun haben, sind wirklich bedrückend“, sagt ein hochrangiger Nato-Beamter, der sich gegenüber dem Redaktions­Netzwerk Deutschland unter der Bedingung äußerte, dass sein Name nicht erwähnt wird. Nicht nur die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilisten und Soldaten wachse derzeit schnell, auch die Zahl der getöteten russischen Soldaten steige steil an.

Letzteres können sich die Nato-Leute nur schwer erklären. Wladimir Putin, der Aggressor, hat ja die Wahl. Er könnte von heute auf morgen aufhören, dann wäre alles vorbei. Er könnte auch, indem er hier oder da nur den Griff etwas lockert, sofort die Opferzahlen auf der eigenen Seite senken.

Warum, fragen sich die Nato-Experten und ‑Expertinnen, beharrt er auch um den Preis eines immensen Blutzolls auf so mittelmäßig bedeutsamen Zielen wie der Eroberung der 100.000-Einwohner-Stadt Sjewjerodonezk?

Das könnte Sie auch interessieren:

Immer wieder beschossen dort die Russen in endlos erscheinenden Kanonaden ukrainische Schützengräben. Moskaus Kampfbomber flogen mehr Einsätze denn je. Doch dann, als die Russen sich sicher glaubten und schließlich mit Panzern vorrückten, um den Ort einzunehmen, gerieten sie selbst unter massiven Beschuss – und starben in großer Zahl.

Stets wurde dann die russische Attacke abgebrochen. Aber am nächsten Tag begann das tödliche Spiel von vorn: Aus größerer Entfernung sprachen zunächst wieder die russischen Kanonen, dann rollten die Panzer, dann kam die Infanterie – und wieder starben am Ende junge, offenbar schlecht ausgebildete russische Soldaten im Kugelhagel ukrainischer Kämpfer.

Jeden Tag sterben 100 ukrainische Soldaten

Sprachlos folgten die Nato-Leute tagelang diesem archaischen Kampf. Phasenweise wirkte das Geschehen am Boden wie die blutige Entartung eines Versteckspiels unter Erwachsenen, teilweise sah es aus wie das Trommelfeuer an der Somme: „Mitunter fühlt man sich eher an den Ersten als an den Zweiten Weltkrieg erinnert.“

Allein auf ukrainischer Seite sterben derzeit Tag für Tag rund 100 Soldaten, Präsident Wolodymyr Selenskyi persönlich hat diese Größenordnung genannt. An schlechten Tagen sind es wohl auch mal einige mehr.

Zu Pfingsten meldete die Regierung in Kiew einen Verhandlungs­fortschritt der düsteren Art. Ukrainer und Russen wurden sich über den Austausch von Leichen einig. In schwarzen Plastiksäcken überreichte man einander die Überreste verstorbener Kämpfer.

Luftaufnahmen aus ukrainischen Kampfzonen zeigen, wie improvisierte Friedhöfe sich ausdehnen. Zerstreuen sich dort gegen Abend die trauernden Besucher, sieht man noch immer Arbeiter auf dem Feld: Sie heben Erde aus, um Platz zu schaffen für die Soldaten, die noch kommen.

Tödlicher als Irak und Afghanistan

„Dieses Schlachtfeld ist viel tödlicher als alles, was wir aus den letzten Jahrzehnten kennen“, sagte Ben Hodges, der ehemalige kommandierende General der US-Streitkräfte in Europa, dieser Tage der Nachrichtenagentur Associated Press. „Im Irak oder in Afghanistan hatten wir solche Zahlen nicht.“

100 tote ukrainische Soldaten pro Tag: Den USA mit ihrer siebenmal größeren Bevölkerung blieb ein solches Massensterben von Soldaten sogar in den düstersten Tagen des Vietnam-Kriegs erspart. Dort lag im Jahr 1968 der traurige Höhepunkt bei 50 Toten pro Tag.

Auch für Russland bedeutet der Krieg in der Ukraine ein ungewohntes Opfer. Moskau vermeidet die Nennung offizieller Zahlen. Die Regierung der Ukraine geht von knapp 30.000 getöteten russischen Soldaten aus. Selbst wenn man nur die Hälfte annimmt und damit Schätzungen der britischen Regierung folgt, hat Russland im Laufe von drei Monaten in der Ukraine bereits mehr Soldaten verloren als die Sowjetunion im Laufe von neun Jahren Krieg in Afghanistan (14.400).

Wie ist diese Brutalität zu erklären, diese Unerbittlichkeit auch den eigenen Truppen gegenüber? Die erstrebte Landverbindung zur Krim könnte Putin auch auf weit weniger blutige Art herstellen, da sind sich die Nato-Experten einig. Über die geradezu groteske Massierung russischer Truppen vor den Toren der schon weitgehend entvölkerten Stadt Sjewjerodonezk schüttelten sie zuletzt nur noch den Kopf.

Putin aber verbeißt sich offenbar in Machtproben wie dieser. Ungerührt lässt er auch militärisch fragwürdige Aktionen durchziehen, wenn sie ihm aus politischen Gründen gefallen.

Sterben für ein zynisches Spiel

Sjewjerodonezk bot dem Kremlherrn die Möglichkeit, gleich beide Seiten zu lehren, wer ihr Gebieter ist: die Ukrainer, indem er höhnisch noch die Trümmer ihrer schon plattgemachten Stadt tanzen ließ, und die eigenen Truppen, denen er erbarmungslos aufgab, jene militärischen Manöver, die ihnen anfangs nicht so gut gelangen, so oft zu wiederholen, bis es endlich klappte – auch wenn dabei viele Tote anfallen.

Dem für die Region zuständigen russischen General soll Putin aufgegeben haben, ihm bis zum 10. Juni die Einnahme der Stadt zu melden. Aus westlicher Sicht ist dies eine völlig aus der Luft gegriffene Zuspitzung, ein zynisches Spiel – das allerdings noch viele junge Männer das Leben kosten wird.

Dass die Kämpfe um Sjewjerodonezk Tag für Tag beiden Seiten in etwa den gleichen Blutzoll abverlangten, kümmerte Putin nicht. Er kennt die Grundrechenarten. Zieht man bei der größeren russischen Armee (850.000) und bei der kleineren ukrainischen Armee (250.000) täglich eine auf beiden Seiten identische absolute Zahl von Toten ab, ergibt sich eine nach und nach immer stärker wachsende Überlegenheit der russischen Seite. So schlicht funktioniert Putins makabre Mathematik des Todes.

Ein „Todeskult“ in der russischen Gesellschaft

Hinzu kommt: Jeder Kriegstag in der Ukraine drückt nicht nur die ukrainische Armee, sondern das ganze Land gleichsam mit dem Kopf unter Wasser. Zivilisten werden durch Bomben getötet oder durch Minen arbeitsunfähig gemacht, Getreidesilos werden ebenso bombardiert wie Industrieanlagen, Wirtschaft und Sozialsysteme werden in den Kollaps getrieben.

Putins Ziel ist, wie 2015 in Syrien, die Maximierung menschlichen Leids. Der Tod vieler Menschen und das damit verbundene Entsetzen sind von ihm gewollt, beides soll seine Herrschaft stabilisieren, nach außen und innen. Die Zivilbevölkerung in der Ukraine soll möglichst schnell den Glauben an eine gute Zukunft in ihrem eigenen Land verlieren – und fliehen. Deshalb zerstörte Russland in der Ukraine laut Kultusministerium in Kiew binnen 100 Tagen bereits mehr als 180 Schulen. Und deshalb gab es, wie die Weltgesundheits­organisation meldet, bereit „296 verifizierte Angriffe auf Gesundheits­einrichtungen“.

An dieser Stelle folgt Putin zwei russischen Zaren, die für ihn historische Vorbilder sind: Alexander III. und Iwan dem Schrecklichen. Schon diese beiden gründeten ihren Herrschafts­anspruch auf ihre Grausamkeit. Zu ihrem Stil gehörte es, andere Völker nicht etwa nur ökonomisch zu unterwerfen, sondern ihr Leben und ihre Städte demonstrativ zu zerstören. Nach jahrhundertealtem Kremlkalkül kann nur auf diese Art die nötige Angst entstehen, die das gewaltsam geschaffene Reich zusammenhält. Ohne eine hohe Zahl von Toten und Verwundeten ist das nicht zu schaffen.

Seit dem Einmarsch in die Ukraine hieß es oft, eine hohe Zahl an Todesopfern werde Putin politisch zu schaffen machen. Doch der Kremlherr baute vor. Erstens ließ er die als Kanonenfutter verwendeten jüngeren Soldaten vorsichtshalber in Gebieten abseits der politisch sensiblen Ballungsräume Moskau und St. Petersburg rekrutieren; ein paar Protestaktionen in weit entfernten Provinzen bekommt seine Geheimpolizei schnell in den Griff. Zweitens spielt Putin seit dem 9. Mai eine dramatische Begleitmusik, die den Endkampf gegen die Nazis beschwört, ein Ringen also, in dem der Tod nach Ansicht vieler Russen nichts Schlimmes ist, sondern zu etwas Ruhmreichem wird.

Die Russland-Kennerin Natalia Antonova spricht in einem dieser Tage in den USA veröffentlichten Aufsatz von einem „Todeskult“, der sich in der russischen Gesellschaft ausgebreitet habe. Die tieferen Wurzeln des Phänomens lägen in den enormen Verlusten der Russen im Zweiten Weltkrieg. Nachdem die russische Gesellschaft auch in den Jahrzehnten danach immer wieder unter Tyrannen gelebt habe, sei sie zu einer düsteren Schlussfolgerung gelangt: „Es ist einfacher, die Toten zu verehren, als die Lebenden zu retten.“

In rollenden Särgen aufs Schlachtfeld

So kann das Kulthafte die Realität verkleistern. In Wirklichkeit ließ Russland in der Ukraine einen ehrenden Umfang mit den eigenen Toten vermissen. Schon zu Beginn des Feldzugs, nach ersten Kämpfen um den Flughafen nördlich von Kiew, fiel westlichen Fernsehteams auf, dass die Russen die Leichen von erschossenen oder in ihren Panzern verbrannten Kameraden achtlos am Straßenrand zurückgelassen hatten. Erst als die Ukraine öffentlich Druck auf Moskau machte, begannen die anfangs desinteressierten russischen Behörden widerwillig mit Rücktransporten sterblicher Überreste.

Eine Philosophie der Geringschätzung des Einzelnen im Krieg zeigt sich bis heute auch in der russischen Militärtechnologie. Nach wie vor sitzen russische Soldaten in ihren Panzern gleichsam auf der Munition – während westliche Modelle wie der deutsche Leopard 2A7 oder der amerikanische M1 Abrams eine Abtrennung zur Munitionskammer bieten, mit deutlich besseren Überlebenschancen bei Beschuss.

Wird ein russischer Panzer etwa vom Typ T-72 von einer Drohne mit eigentlich geringer Sprengkraft am Turm getroffen, kann eine Kettenreaktion in Gang kommen, die den Turm komplett wegsprengt, ihn sogar haushoch in die Luft katapultiert und die Besatzung tötet. Experten sprechen vom „Jack-in-the-box-Effekt“. Schon zu Sowjetzeiten war das der politischen Führung aber egal: Maßgeblich war aus Moskauer Sicht, dass man die Panzer auf möglichst einfache Art massenhaft produzieren konnte.

Russische Soldaten in rollenden Särgen

Die westlichen Panzer sind komplizierter. Einen besonders guten Schutz bieten der Besatzung Panzer vom Typ Merkava, die von Israel entwickelt wurden, einem demokratischen Staat mit nur 9,5 Millionen Einwohnern. Zu besichtigen ist hier ein etwas anderes Menschenbild als beim diktatorisch regierten 145-Millionen-Volk der Russen, deren Soldaten man seit Jahrzehnten in rollende Särge zwingt.

Die historisch gewachsenen Unterschiede bekommen gerade eine frappierend aktuelle Bedeutung. Ukrainische Drohnenangriffe zielen derzeit exakt aufs Auslösen des „Jack-in-the-box-Effekts“ bei den russischen Panzern. Deren Besatzungen bezahlen in diesen Tagen mit ihrem Leben dafür, dass bei den höchsten Entscheidern in Moskau Leben und Würde des Einzelnen noch nie besonders hoch im Kurs standen.