Süchtig nach schlechten NachrichtenWenn auf Twitter nur noch Weltuntergang herrscht
Der Weltuntergang ist meist nur einen Klick weit entfernt. Vom Krieg in der Ukraine über die wieder steigenden Corona-Zahlen bis zu den dramatischen Warnungen über die Auswirkungen des Klimawandels: Wer im Internet ständig die neuesten Negativnachrichten mitverfolgt, tut sich damit keinen Gefallen.
Negativnachrichten schlagen auf Laune und Konzentration
Vielmehr droht ein Teufelskreis, bei dem unser Wohlbefinden und unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren, leiden. Das schreibt die Professorin für klinische Neuropsychologie, Barbara Jacquelyn Sahakian von der Universität Cambridge, zusammen mit drei weiteren Forschern und Forscherinnen in einem Gastbeitrag für das Magazin „The Conversation“.Viele Menschen hätten seit Beginn der Corona-Lockdowns chronischen Stress erlebt.
Dazu kämen die Klimakrise, die steigenden Lebenshaltungskosten und nun seit Kurzem die Bedrohung der europäischen und globalen Sicherheit durch den Konflikt in der Ukraine. „Manchen mag es scheinen, als gäbe es keine guten Nachrichten mehr“, so die Verfasser und Verfasserinnen des Beitrags. Das sei natürlich nicht richtig, aber der exzessive Onlinekonsum negativer Meldungen könne leicht dazu führen, dass wir es so empfinden.
Doomscrolling kann die Stimmung beeinflussen
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warnen in ihrem Beitrag vor einem Verhalten, für das sich der Begriff Doomscrolling durchgesetzt hat. Doom heißt so viel wie Untergang oder Verdammnis, wer Doomscrolling betreibt, verbringt viel Zeit damit, online nach Informationen zu als bedrohlich empfundenen Ereignissen zu suchen: Das können Zahlen zur aktuellen Corona-Welle sein oder auch Meldungen zum Krieg in der Ukraine. Wer es damit übertreibt, glaubt irgendwann wirklich an den nahenden Weltuntergang.
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Doomscrolling könne unsere Stimmung beeinflussen und Angst und Niedergeschlagenheit auslösen, betonen die Verfasser und Verfasserinnen des Artikels. Tatsächlich konnte das schon vor einigen Jahren durch eine Studie bestätigt werden.
So hatten Forscher und Forscherinnen der University of California 2013 untersucht, welche Auswirkungen die Berichterstattung über den Anschlag auf den Boston-Marathon auf die Menschen hatte. Es zeigte sich, dass Personen, die täglich mehrere Stunden lang die Berichterstattung zu den Ereignissen verfolgten, zum Teil sogar ein höheres Stresslevel erreichten als Personen, die selbst vor Ort gewesen waren.
Doomscrolling fordert ständige Aufmerksamkeit
Je länger wir uns in einem negativen Gefühlsmodus befinden, desto schwieriger wird es, eine andere Perspektive auf die Dinge einzunehmen, warnt nun das Team um Neuropsychologin Sahakian. Das führe dazu, dass wir an negativen Gedanken wie „Das hört niemals auf“ oder „Es gibt keine guten Neuigkeiten“ hängen bleiben: was ein Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit auslösen könne.
Das ständige Mitverfolgen der neuesten Negativnachrichten sei aber nicht nur geeignet, unsere Stimmung zu trüben. Es kann auch dazu führen, dass wir im Alltag weniger leistungsfähig sind, weil es ständig unsere Aufmerksamkeit einfordert.
Sahakian und die anderen Forscher und Forscherinnen verweisen auf eine Studie, in der zwei Gruppen von Studierenden einen Test schreiben sollten und die Hälfte von ihnen währenddessen Echtzeitnachrichten auf ihrem Telefon erhielt. Die Gruppe, die die Nachrichten geschickt bekam, brauchte deutlich länger, um den Test abzuschließen, und zeigte höhere Stresslevel als die Vergleichsgruppe.
Verhalten kann in Zwangsstörung münden
Eine verminderte Aufmerksamkeit sei geeignet, Anspannung und Ängstlichkeit zu fördern, was wiederum die Tendenz verstärken könne, nach den neuesten Horrormeldungen zu suchen, heißt es in dem Artikel – ein Teufelskreis. Im schlimmsten Fall könne das in eine Zwangsstörung münden.
Was die Autoren und Autorinnen dabei noch nicht mit berücksichtigt hatten: Algorithmen sorgen bei der Informationssuche im Internet und den sozialen Netzwerken dafür, dass umso mehr Nachrichten einer Kategorie angezeigt werden, je häufiger man diese anklickt. Wer also aus Sorge wegen des Krieges in der Ukraine oder der aktuellen Corona-Zahlen Meldungen zu diesen Themen aufruft, bekommt ähnliche Artikel gezielt angezeigt.
Informationen aktivieren Belohnungsregionen im Gehirn
Aber was bringt uns dazu, wie zwanghaft Nachrichten in Echtzeit mitzuverfolgen – wo es doch auch genügen würde, sich einmal am Tag über die wichtigsten Ereignisse zu informieren? 2019 hatten Forscher und Forscherinnen der UC Berkeley“s Haas School of Business die Vorgänge im Gehirn von Versuchsteilnehmern und ‑teilnehmerinnen analysiert, denen sie Informationen zugänglich machten.
Informationen zu erhalten aktivierte demnach Belohnungsregionen im Gehirn, in denen das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird: Es handelte sich um die gleichen Regionen, die auch durch Essen, Geld und bestimmte Drogen aktiviert werden können. Aktiviert wurden diese Regionen übrigens selbst dann, wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Versuchs gar keinen besonderen Nutzen von einer Information hatten.
Stressreduzierende Aktivitäten einplanen
Wenn wir mit dem Doomscrolling einfach nicht aufhören können, ist das also kein Wunder. Es könnte manchen Menschen demnach ähnlich schwerfallen wie eine Diät oder gar ein Entzug. Trotzdem ist Verzicht die einzige Möglichkeit, der Spirale aus der zwanghaften Suche nach Schreckensnachrichten und immer gedrückterer Stimmung zu entkommen.
Das Team um Barbara Jacquelyn Sahakian empfiehlt, sich abzulenken und stattdessen Aktivitäten einzuplanen, die stressreduzierend wirken: wie ein gutes Buch zu lesen, sich einen schönen Film anzusehen, sich mit Freunden und Familie zu treffen oder ein Achtsamkeitstraining zu absolvieren.
Auch Sport oder etwas Neues zu lernen, zum Beispiel eine Sprache oder ein Musikinstrument, könne sowohl die Laune als auch die kognitiven Fähigkeiten verbessern – die beim Doomscrolling beeinträchtigt zu werden drohen.
Handeln statt Scrollen
Etwas für andere zu tun, zum Beispiel für Geflüchtete aus der Ukraine, aktiviere ebenfalls unser Belohnungssystem und könne das Gefühl der Machtlosigkeit abmildern. Wer sich um den Zustand der Welt sorgt, soll sich den Autoren und Autorinnen zufolge zudem klarmachen, dass Doomscrolling ohnehin nichts nützt, im Gegenteil, schreiben sie: „Wie sollten wir globale Herausforderungen wie Konflikte und den Klimawandel meistern, wenn wir so deprimiert und abgelenkt sind, dass uns die besten Lösungen nicht mehr einfallen?“ (rnd)