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Wenn es Nacht wird in Neukölln„Die Jugend hier hat jeden Respekt vor der Polizei verloren“

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Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht, bei denen in Neukölln ein Reisebus angezündet wurde, fragen LKA-Beamte Anwohner nach Videomaterial.

Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht, bei denen in Neukölln ein Reisebus angezündet wurde, fragen LKA-Beamte in Neukölln Menschen nach Videomaterial.

Was erlebt ein Polizeiteam, das nachts in einem der schwierigsten Stadtteile Berlins für Sicherheit sorgen soll?

Es ist kurz vor Schichtbeginn, und im Funkstreifenwagen fehlt die Leichendecke. Juliane W. und Michael K. fällt das bei der Kontrolle der Ausstattung des Mercedes Vito auf, den sie von ihren Kollegen von der Tagschicht übernehmen. Sie holen die Decke noch schnell aus der Wache, bevor ihr Nachtdienst beginnt. Der Kleinbus wird für die nächsten zwölf Stunden dieser Samstagnacht Anfang Februar die mobile Basis der Polizeimeisterin und des Polizeioberkommissars in Berlin-Neukölln sein.

„Abschnitt 48“, das ist die Wirkstätte der beiden 36-Jährigen – also die Neuköllner Ortsteile Gropiusstadt, Britz, Buckow und Rudow im Süden Berlins umfasst. 154 000 Menschen leben dort. Dicht an dicht in Gropiusstadt mit 90 Prozent Sozialwohnungen oder auch in alten kleinen Einfamilienhäusern in Britz. Neukölln, das sind viele Welten unter einem Namen.

„Passt auf euch auf“

Der Wachleiter in der Polizeidirektion 4 weist die Besatzungen der sechs Streifenwagen ein, die zwischen 18 und 6 Uhr Recht und Ordnung aufrechterhalten soll Er gibt das Kennwort für die Nacht aus, informiert über eine potenzielle Gefährdungslage und gibt den Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg: „Passt auf euch auf.“ Die Bitte ist keine hohle Phrase. Gemessen an der Bevölkerungszahl gibt es in keinem anderen Bundesland mehr Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten als in Berlin – und Neukölln ist einer der Brennpunkte in der Bundeshauptstadt. Zuletzt ist Berlin wegen der Silvesterkrawalle auf den Neuköllner Straßen in die Schlagzeilen geraten, bei denen Dutzende Polizisten und zahlreiche Feuerwehrleute verletzt wurden.

„Wir wurden von Balkonen mit Raketen und Böllern beschossen“
Juliane W., Polizistin

Die Randale hat wieder eine Debatte über Integration ausgelöst, angeheizt vom Wahlkampf. In Berlin muss an diesem Sonntag die Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholt werden. Michael K. und Juliane W., beide 36, sind an diesem Silvester nicht im Dienst gewesen, sie hatten im Jahr zuvor gearbeitet. Mehrere der verletzten Polizeibeamten sind aber aus ihrem Abschnitt 48. Einem seiner Kollegen sei eine Feuerwerksrakete unter das Helmvisier geflogen, erzählt Michael K.

Der Mann habe schwere Verbrennungen erlitten und sei bis heute nicht zurück im Dienst. Das Ausmaß der Gewalt habe ihn betroffen gemacht, sagt Michael K. Womöglich seien sich die Krawallmacher nicht im Klaren darüber, was sie anrichteten. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie Menschen mit Absicht solche Verletzungen zufügen wollen.“ Juliane W. erzählt vom Einsatz in der Silvesternacht ein Jahr zuvor; da herrschte wegen der Pandemie eigentlich noch ein Böllerverbot, aber: „Wir wurden von Balkonen mit Raketen und Böllern beschossen.“ An den Hotspots steige man an Silvester ohnehin nur mit Helm aus dem Fahrzeug. „Aber ich hätte am liebsten noch eine Panzerung um mich herum gebaut.“

Michael K. (36), Polizeioberkommissar und Juliane W. (36), Polizeimeisterin, aus dem Abschnitt 48 der Polizeidirektion 4 in Berlin

Michael K. (36), Polizeioberkommissar und Juliane W. (36), Polizeimeisterin, aus dem Abschnitt 48 der Polizeidirektion 4 in Berlin

Die Debatte darüber, ob die Täter einen Migrationshintergrund gehabt hätten oder nicht, „ist in unserem Bereich überflüssig“, sagt Michael K. „Wer soll es hier denn sonst sein?“ Er schätze, dass 70 bis 80 Prozent der Menschen in dem Polizeiabschnitt Wurzeln außerhalb Deutschlands haben, nur in den Randgebieten seien Deutsche ohne Migrationshintergrund stärker vertreten. „Aber Oma Bräsicke wird hier nicht stehen und Polizisten mit Böllern bewerfen.“

Allerdings sei es nicht so, dass die Beamten generell angefeindet würden. „Die Hälfte von denen, zu denen wir hinfahren, sind nett und uns wohlgesonnen“, sagt der Polizist. „Die anderen 50 Prozent sind genau das Gegenteil. Gerade die Jugend hier hat jeden Respekt vor der Polizei verloren. Da wird einem mitten im Gespräch vor die Füße gespuckt.“ Gefahr vom Balkon Grundsätzlich kann die Polizei in der Bevölkerung auf Sympathien bauen. In einer Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes gaben im vergangenen Jahr 78 Prozent an, Polizistinnen und Polizisten stünden bei ihnen in hohem oder sehr hohem Ansehen. Zum Vergleich: Journalisten kamen auf 32 Prozent. Trotz des guten Images gibt es aber immer wieder Vorwürfe gegenüber der Polizei, auch von innerhalb des Apparats.

Die Polizei handelt in vielen Fällen erwiesenermaßen rassistisch“
Polizist Oliver von Dobrowolsk

So kritisiert etwa der Berliner Polizist Oliver von Dobrowolski: „Die Polizei handelt in vielen Fällen erwiesenermaßen rassistisch.“ In seinem Buch „Ich kämpfe für eine bessere Polizei“ bemängelt er außerdem Sexismus „in einer männlich dominierten Berufswelt“. Juliane W. betont dagegen, sie habe sich als Frau bei der Polizei nie diskriminiert gefühlt. Michael K. meint, er könne bei mehr als 26 000 Bediensteten in Berlin nicht sagen, dass Rassismus bei der Polizei nicht vorkomme. „Aber in meiner Erfahrung habe ich nichts davon mitbekommen.“

An diesem Samstagabend wird die Funkstreife in der Gropiusstadt in eine Straße gerufen, in der Michael K. grundsätzlich keine Dienstmütze aufsetzt, wenn er aus dem Wagen steigt – der Schirm könnte ihm den Blick auf die Balkone der Hochhäuser versperren, von denen die Beamten beworfen werden könnten. Eine Frau hat angerufen, sie will, dass ihr Ehemann in die Psychiatrie eingeliefert wird. Weil der Mann an der Wohnungstür keine Anhaltspunkte dafür liefert, dass er sich selbst oder andere gefährden würde, wollen die Polizisten wieder abziehen.

An der Feuerwehreinfahrt zu dem Wohnblock hält ein Nachbar die Beamten auf, er sagt, der Mann sei schizophren und phasenweise außer sich. „Der dreht völlig durch. Der weiß nicht, was er macht.“ Müsse der geistig Verwirrte erst sein Kind vom Balkon werfen, bis die Polizei einschreite? „Tut mir leid, Stand jetzt sind uns die Hände gebunden“, sagt Michael K. Mitten in der Diskussion hält ein Auto in der Feuerwehreinfahrt, der Fahrer liefert Essen aus. „Können Sie schauen, dass ich keinen Strafzettel bekomme?“, fragt er den Polizisten. „Ist das Ihr Ernst?“, antwortet Michael K. „Ich arbeite“, sagt der Lieferant. „Ich auch“, erwidert der Polizist.

Notruf: „Hilflose Person“

Der Funkwagen fährt kreuz und quer durch den Abschnitt 48, vorbei an der Döner-Insel und an den Gropius-Passagen. Am Straßenrand steht ein Wahlplakat der CDU. „Was Kriminelle bald häufiger hören: Haftbefehl“ ist einer ihrer Werbesprüche. An einer nahe gelegenen Tankstelle sollen sich junge Männer mit ihren Autos nachts zu illegalen Straßenrennen versammeln. Unweit davon findet sich die Top-Disco, das Tanzlokal ist bei der Polizei wegen Schlägereien unter den Besuchern berüchtigt.

Michael K. fährt einen fast leeren Parkplatz ab, einen Wagen mit zwei Insassen nimmt er kurz in Augenschein, dann sagt er: „Wollen wir sie mal nicht stören beim Liebesspiel.“ Zu einem weiteren Einsatz geht es mit Blaulicht und Martinshorn, es ist ein Notruf über eine „hilflose Person“ eingegangen. Vor allem ist die Person sehr betrunken, wie sich herausstellt. Die Frau im Treppenhaus ist felsenfest davon überzeugt, dass sie im sechsten Stock des Wohnblocks lebt, den sie partout nicht verlassen möchte. Mit Engelsgeduld versucht Juliane W., ihr deutlich zu machen, dass sie zwei Häuser weiter zu Hause ist.

Auch der Ehemann der Frau ist angerückt, an der Leine hat er Eddy, eine Mischung aus Schnauzer und Pudel. „Mich nehmen Sie hier nicht mit“, schreit die Betrunkene. „Ich verspreche Ihnen, ich bringe Sie nach Hause“, sagt Juliane W. „Was will denn die Alte?“, lallt die verwirrte Frau. Sechs Polizisten sind angerückt, ein Rettungswagen ebenso. Zwischenzeitlich schwebt Eddy in Gefahr, der Hund ist in den Aufzug getapert, sein Herrchen steht am anderen Ende der Leine draußen, und die Türen beginnen sich zu schließen. Gerade noch rechtzeitig zieht der Mann das Tier hinaus. „Mein Hund ist krank“, ruft die Frau. „Lassen Sie mich in Ruhe.“

Juliane W. gelingt es schließlich doch, die Frau davon zu überzeugen, dass sie woanders lebt – gemeinsam mit einer anderen Polizistin geleitet sie sie nach Hause, Ehemann und Hund im Schlepptau. Eddy pinkelt draußen erst einmal an den nächsten Pfosten. Für Neuköllner Verhältnisse bleibt der Samstagabend ungewöhnlich ruhig, zumindest gilt das bis 23 Uhr, so lange dürfen die Reporter die Streife begleiten. Derart friedlich verlaufen die Schichten längst nicht immer. „Angst wäre Unsinn“ Michael K. sagt, er sei im Einsatz bereits verletzt worden, „bei einer großen Auseinandersetzung mit einer größeren Personengruppe“. Sowohl er als auch Juliane W. haben Kinder.

„Man weiß, dass es in Berlin häufig zu Angriffen auf Polizeibeamte kommt“

Ob ihre Familien Angst um sie hätten? „„Pass auf dich auf„ kommt schon ziemlich häufig“, räumt Juliane W. ein. Michael K. meint: „Angst wäre Unsinn. Wenn ich so schon zum Dienst kommen würde, würde ich ja alles Negative geradezu anziehen.“ Michael K. sagt, die Polizisten wüssten, worauf sie sich einließen. „Man weiß, dass es in Berlin häufig zu Angriffen auf Polizeibeamte kommt.“ Seine Kollegin ergänzt: „Das ist nicht Oberstdorf. Das bekommt man schon in der Ausbildung verdeutlicht.“ Natürlich sei man erschüttert, wenn Menschen verletzt würden. Die positiven Erlebnisse machten die negativen aber mehr als wett.

Beide Polizisten betonen, sie hätten ihre Berufswahl nie bereut. „Das ist der erste Job, bei dem ich nach Jahren immer noch mit Freuden zur Arbeit fahre“, sagt Michael K. Dazu trügen auch kleine Erfolgserlebnisse bei. Juliane W. erinnert sich an so einen Fall, als die Streife an einer Bushaltestelle vorbeifährt. „Hier haben wir mal um 4 Uhr morgens eine Oma aufgesammelt“, sagt sie. Die Frau sei dement gewesen und vermisst worden, die Polizisten hätten sie nach Hause gebracht. „Das war vielleicht nicht besonders spektakulär“, sagt Juliane W. Michael K. ergänzt: „Aber es war schön.“