- Die Union geißelt eine zu langsame Regierung, der Kanzler rügt eine Union, die die Energiewende verschleppt habe.
- Die gesamte Gereiztheit hilft nur einem: dem wahren Verursacher der Krise.
- Wladimir Putin will, dass Deutschlands Demokraten einander an die Gurgel gehen.
Berlin – Friedrich Merz weiß, wie man Punkte sammelt im Land. Und er zeigt dabei eine Eigenschaft, die traditionell zur Jobbeschreibung für jeden Oppositionsführer gehört: eine gewisse Gnadenlosigkeit. Seit Monaten attackiert der CDU/CSU-Fraktionschef die Regierung exakt an jenen Stellen, bei denen auch viele Wähler und Wählerinnen mit Blick auf Olaf Scholz Schwächen spüren: beim Zögern und Zaudern des Kanzlers in vielen Dingen und bei den häufigen Streitigkeiten innerhalb der Ampelkoalition.
Das Dauerfeuer von Merz trug zu einem beachtlichen stimmungsmäßigen Geländegewinn für die Union bei. Im jüngsten Politbarometer steht die Union bundesweit bei 27 Prozent, das sind stolze 5 Punkte mehr als zu Jahresbeginn. Die SPD ist unterdessen auf 18 Prozent abgerutscht, ein alarmierend schwaches Ergebnis für eine Partei, die den Bundeskanzler stellt.
Deutschland braucht Zusammenrücken aller Demokraten
Wen aber freut das alles? Und wem nützt es? Es wird Zeit, den Blick zu weiten. Angesichts der Bedrohung durch Wladimir Putin erweisen sich die parteipolitischen Scharmützel der vergangenen Monate in Berlin als deplatziertes Piff-Paff einer Politik, die noch nicht begriffen hat, dass ihre alten Kategorien nicht mehr zur neuen Weltlage passen.
Deutschland braucht jetzt das Zusammenrücken aller Demokraten. Das ist kein Ruf nach einer Großen Koalition; eine starke Opposition gehört zum Lebenselixier der freien Gesellschaft. Nötig ist aber eine Große Kooperation, ein ernsthaftes Zusammenwirken der Demokraten in dem Bewusstsein, dass der wahre Gegner, den es jetzt auszukontern gilt, nicht in dieser oder jener Berliner Parteizentrale sitzt, sondern im Kreml.
Politische Front quer durch Europa
Alle europäischen Demokratien müssen derzeit aufpassen. Russland hofft darauf, dass sie sich selbst von innen her zersetzen. Im Streit um die durch Putin verknappte Energie und die deswegen steigenden Preise sollen die Demokraten einander solange an die Gurgel gehen, bis das Publikum sich von ihnen seufzend abwendet und das Heil woanders sucht, beim starken Mann.
Quer durch Europa verläuft eine politische Front, an der Putin erfolgreicher agiert als auf dem Schlachtfeld in der Ukraine. Den ungarischen Regierungschef Viktor Orban hat Putin schon in der Tasche. Wie weit Moskaus Einfluss auf das neue, rechte Regierungsbündnis in Italien reicht, wird sich zeigen.
Ein Umkippen von Demokratien wird erleichtert, wenn ihr in der Mitte befindliches Fundament bröckelt. Deutschland steht in dieser Hinsicht stabiler da als viele andere EU-Staaten. Doch auch in Deutschland ist eine leise Erosion im Gang. Noch im März waren 75 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger der Meinung, die Regierung leiste gute Arbeit. Inzwischen sagen das nur noch 49 Prozent. Demoskopen sprechen von einem insgesamt nachlassenden Vertrauen in die „Problemlösungskompetenz“.
Energiekrise: Nachlassendes Vertrauen in deutsche Regierung
Ende September zeigte im Politbarometer auch die monatelang kräftiger gewordene CDU/CSU eine wieder leicht schwächere Tendenz. Merz blieb in der Persönlichkeitswertung weiterhin hinter Scholz zurück. Unterm Strich spricht dies weniger für eine Wendestimmung als für eine wachsende Ratlosigkeit im Publikum.
Die Krise lässt mittlerweile auch das generelle Systemvertrauen wackeln, besonders in Ostdeutschland. Dort sagten in einer Umfrage für den Ostbeauftragten der Bundesregierung nur noch 39 Prozent der Teilnehmer, sie seien „zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert“. Noch vor zwei Jahren sagten dies in Ostdeutschland immerhin 48 Prozent. In Westdeutschland sank die Zufriedenheit mit der Demokratie von 65 auf 59 Prozent.
Sorge um eigenen Wohlstand – Scholz verkündete Zeitenwende
Hinter diesen Zahlen steckt eine Vielzahl von Faktoren, allen voran die Sorge um den eigenen Wohlstand. Dass es erstmals ernsthaft abwärts gehen könnte, bedeutet für die Mehrheit der heute Lebenden in Deutschland eine nie dagewesene Verunsicherung. Die von Scholz verkündete Zeitenwende hat auch eine bislang oft übersehene psychologische Dimension.
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Bei der Suche nach dem Schuldigen sind die Deutschen dummerweise allzu schnell ins eigene Land zurückgekehrt. Oft wurden in den allabendlichen Krisentalkshows die falschen Fragen gestellt: Droht dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck ein Gesichtsverlust? Hat Olaf Scholz ein Kommunikationsproblem? Auch wurden allzu viele Diskussionen mit starrem Blick in den Rückspiegel geführt. Mal war Gerhard Schröder der Sündenbock, mal Angela Merkel.
Verquere Energiepolitik: Suche nach Schuldigem
In Wahrheit haben zur völlig verqueren deutschen Energiepolitik alle demokratischen Parteien beigetragen, jede auf ihre Art, viele Jahre lang übrigens ganz ohne die heute üblich gewordene beißende Kritik aus den Medien. Inzwischen dominieren allerorten die Besserwisser und die Wendehälse. Allen Ernstes sprach sich, ein Treppenwitz, Oliver Welke in der „heute-show“ jüngst fürs Fracking in Deutschland aus.
Falsch war es, wie die Grünen jahrelang zu Recht betont haben, die Abhängigkeit von Russland beim Gas so weit zu treiben wie Merkel. Falsch – klimapolitisch wie strategisch – war es aber auch, erst aus der Kernenergie und dann aus der Kohle auszusteigen, was wiederum den Grünen wichtig war. Heute addieren sich diese beiden deutschen Sonderwege in ihrer schädlichen Wirkung auf Land und Leute.
Fehler klar benennen: Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
Was tun? Deutschlands Demokraten aller Couleur können Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem sie sich einen Ruck geben und ihre eigenen Fehler klar benennen. Dringender als jeden anderen Ausstieg braucht Deutschland einen Ausstieg aus der Unredlichkeit. Verkneifen sollten sich die politischen Spieler in Berlin dagegen jeden Anflug von Arroganz gegenüber demokratischen Mitbewerbern. Leider walten da noch immer alte Reflexe. Ende September, an einem Tag ohne dramatische Weichenstellungen, genügte dem Oppositionsführer Merz ein organisatorisches Detail, um der Regierung eins auf die Nase zu hauen.
Scholz, an Corona erkrankt, hatte entschieden, eine geplante physische Begegnung mit den 16 Ministerpräsidenten zu verschieben. Merz wünschte im Fernsehen gute Genesung, wurde dann aber schneidend: Scholz hätte die Runde virtuell abhalten sollen, sagte Merz, die Bürger wünschten sich mehr Tempo „angesichts der Lage, in der sich unser Land befindet“. Das hörte sich an, als wären alle Probleme geringer, wenn nur die Regierung sich endlich mal darum kümmern würde – eine unfaire Rempelei gegen einen Kanzler, der seit Monaten nichts anderes mehr betreibt als Kriseneindämmung rund um die Uhr.
Scholz: Verantwortung für Energiekrise liege bei Union
Dass wiederum auch Scholz kräftig austeilen kann, bewies er in einer Wutrede Anfang September im Bundestag. Donnernd wies der Kanzler die Verantwortung für alle Kalamitäten, die Land und Leute heute beschäftigen, der Union zu, angefangen von der verschleppten Energiewende bis zu den leeren Gasspeichern. Er, Scholz, indessen habe zum Beispiel durch den Bau von LNG-Terminals viele Probleme schon gelöst, „bevor die Union sich damit überhaupt befasst hat“.
Minutenlang, freudestrahlend wie selten, applaudierten vor allem SPD und Grüne ihrem Kanzler: So kannten sie ihn gar nicht. „Scholz on fire“ hauchte „Tagesschau online“.Was aber bleibt von einem solchen Applaus des Augenblicks? Im Krisenwinter 2022/2023 werden Deutschlands führende Politiker mehr tun müssen, als nur ihre jeweils eigene Fankurve zu bedienen.
CDU, SPD, Grüne und FDP sollten sich darauf konzentrieren, die Strategien Putins auf intelligente Art zu durchkreuzen. Ein erster Schritt wäre eine überparteiliche Regelung der komplizierten Details der 200-Milliarden-Gaspreisbremse. Die gutwilligen, demokratisch gesinnten Politiker in Berlin müssen zusammenrücken. Dann werden es auch die gutwilligen, demokratisch gesinnten Bürger draußen im Land tun. Noch gibt es zum Glück genug davon.