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Wer soll das alles bezahlen?Die neue Angst der Mittelschicht

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(Symbolbild)

  1. Die Preise explodieren, die Politik wirkt ratlos. Das hat Folgen: Die Mittelschicht steckt im Sog der Armutsangst.
  2. Sozialer Abstieg bedeutet nicht nur, kaum Geld zu haben – er bringt auch Ausgrenzung und seelische Not. Wo bleibt die Solidarität?

Berlin – Es sind Wörter, die schmallippig klingen, kalt und technokratisch: „Kinderzuschlag“, „Regelbedarfsstufe“, „Teilhabepaket“, „Eingliederungsvereinbarung“, „Mitwirkungspflicht“, „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Nach Knute und Kontrolle klingen diese Elendswörter aus dem Sozialgesetzbuch, diese eisigen Begriffe der sozialen Not. Für viele Millionen Menschen in Deutschland sind sie Alltag. Sie stehen in den Briefen, sie fallen in den Gesprächen bei der Arbeitsagentur.

Hinter diesen Wörtern steht ein System. Es ist dieses System, das mit darüber entscheidet, ob Jonas (11) mit auf Klassenfahrt kann. Ob Manuels (14) Schulfreunde ihn auslachen, weil sein Handy Tasten hat. Ob sein Mittagessen wieder nur aus Nudeln mit Maggi besteht, weil heute schon der 23. September ist und der Monat fast zu Ende. Und ob seine Mutter sich schämt, eine Freundin zu sich nach Hause einzuladen, weil die Kaffeemaschine kaputt und das Sofa durchgesessen ist.

Der Mythos: Leistung führt zu Wohlstand

Jahrzehntelang hat die deutsche Mittelschicht alles dafür getan, auf Abstand zu gehen zu dieser Welt, bloß nicht in Berührung zu kommen mit diesem System aus Ämtern und Tafeln, dieser Welt aus Abhängigkeiten, Hoffnungslosigkeit und Bedürftigkeit. Reflexhaft schützte man sich mit herablassender Abgrenzung nach „unten“. Im Kern wollte die Mehrheitsgesellschaft lieber nichts wissen vom knüppelharten Alltag von Millionen Deutschen. „Die da unten“, hieß es stattdessen, kriegten halt den Hintern nicht hoch. Selbst schuld. „Unsere Leistungsgesellschaft ist von dem Mythos geprägt 'Wer etwas leistet, wird mit Wohlstand belohnt'“, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge im „Stern“. „Wer faul ist, wird mit Armut bestraft.“

Doch dieser Mythos bröckelt nicht nur. Er zerbirst. Und zwar nicht nur dort, wo man den letzten Groschen zweimal umdrehen muss – sondern auch mitten im Bürgertum. Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist das Gespenst des sozialen Abstiegs. Es packt auch jene, die sich sicher wähnten.

Armut macht das Leben unplanbar

Die dachten, gewisse Grunderrungenschaften der Moderne seien in unserem Alltag unwiderruflich: Wenn wir den Hahn aufdrehen, läuft warmes Wasser. Wenn wir die Heizung aufdrehen, wird es warm. Zwei Einkommen reichen für ein Häuschen. Im Supermarkt gibt es immer günstig Nahrung. Und das Wohnen soll nicht mehr kosten als ein Drittel des Monatsnettoeinkommens. Plötzlich aber wankt das System.

Und worunter von Armut Betroffene schon immer leiden, das wird zum Mehrheitsphänomen auch für Millionen Menschen aus der Mittelschicht: Es ist die lähmende, nagende Ungewissheit in allen Fragen der eigenen Existenz. Die Unplanbarkeit des Lebens. Die Angst vor der nächsten Rechnung. Der ständige Kampf: Wer soll das alles bezahlen? Und: Wo endet es? Selbst in der Wirtschaft werden Stimmen laut, die mittlerweile vor der größten Krise, die das Land je hatte, warnen.

Ein leiser Abstieg

Sozialforscher beobachten mit Sorge, dass die Angst vor existenzieller Not in die Mittelschicht kriecht wie Frost in ein ungeheiztes Haus. Es ist ein leiser Abstieg. Es brennen keine Ölfässer in Deutschland. Es ziehen keine Gelbwesten durch die Innenstädte. Es ist eher ein ungläubiges Staunen. Nur auf Twitter formiert sich ein viraler Aufstand der Armen, die unter dem Hashtag #Ich bin Ar muts be trof fen ihr Schicksal schildern. Es ist, als wolle das Land so lange wie möglich ignorieren, welcher massive Umbruch sich da ankündigt – weg vom Exportweltmeister der rauchenden Schlote, hin zur Krisennation.

Denn es geht in der vielschichtigen aktuellen Krise um viel mehr als die Frage, ob Raumtemperaturen von 16 Grad in der Nacht gefälligst reichen sollten oder nicht (und was eigentlich die Stewardess dazu sagt, die nachts um 3 Uhr von der Arbeit kommt). Es geht um die schleichende, bittere Erkenntnis, dass das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft auf Teilhabe und Aufstieg bei akkurater Lebensführung und tugendhaftem Fleiß wahrscheinlich für einige Generationen nicht mehr erfüllbar sein wird. Und zwar auch für Menschen, die bisher keine Reichtümer hatten, aber mit ordentlichem Lohn oder Gehalt über die Runden kamen.

Offiziell armutsgefährdet ab 15.000 Euro im Jahr

Ein Mensch gilt nach EU-Definition als „armutsgefährdet“, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2021 lag dieser Schwellenwert für eine allein lebende Person in Deutschland bei 15.009 Euro netto im Jahr (1251 Euro im Monat), für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 31.520 Euro netto im Jahr (2627 Euro im Monat). Laut dem Paritätischen Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. „Die Befunde sind erschütternd“, sagt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. „Noch nie wurde ein höherer Wert gemessen, und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet.“

In den Jahren zwischen 2014 und 2017 rutschte in Deutschland laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung jeder Fünfte aus der mittleren in die untere Einkommensschicht ab (zur Mittelschicht zählen jene, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland liegt). Das Phänomen der zerbröselnden Mittelschicht ist nicht neu. Aber es beschleunigt sich. Und wer in Deutschland einmal aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute viel schwerer als früher (und als anderswo), wieder aufzusteigen. Es ist ganz simpel: Wenn auf absehbare Zeit die Inflation bleibt, aber die Einkommen nicht steigen, gerät das Sozialgefüge ins Wanken.

Grundgesetz verpflichtet

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, für ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu sorgen. Zum 1. Januar stieg der Regelbedarf für Alleinstehende aber nur um 0,7 Prozent. Die Inflation dagegen lag damals schon bei 4,9 Prozent. Inzwischen sind es 7,9 Prozent. Immerhin: Das neue Bürgergeld ab 2023 verspricht etwas mehr Luft zum Atmen. Die Telefonseelsorge aber berichtet von immer mehr Anrufern, die verzweifelt weinen. Die Tafeln mussten zeitweise einen Aufnahmestopp verfügen, weil es für zu viele Bedürftige zu wenig Lebensmittel gab. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt laut Kinderhilfswerk in Armut – 2,8 Millionen von knapp 13 Millionen Kindern. „Einige leiden sogar Hunger.“

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass es bei der Grundversorgung um mehr geht als Essen und Wohnen. Der Mensch „als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“, heißt es. Menschen müssen atmen, essen, trinken, schlafen. Dann bleibt ihr Körper am Leben. Doch auch die Seele hat Bedürfnisse. Auf materielle Armut folgen fast immer auch soziale und kulturelle. Und das betrifft nicht nur Kinder aus migrantischen Familien, die sich verloren fühlen zwischen zwei Welten. Wer kaum Zugang zu Kulturangeboten mit positiven Vorbildern hat, vergisst, was eine Biografie bieten kann. Er verliert schleichend das Bewusstsein dafür, dass ein anderes Leben überhaupt möglich ist. Er verliert den Anspruch an das eigene Leben.

Angstspirale setzt sich in Gang

Die Zukunft halbwegs planen zu können, Frieden und Stabilität zu erleben, geborgen zu sein und gleichzeitig die Freiheit zur Selbstentfaltung zu verspüren – das sind Voraussetzungen für Momente des Glücks. Doch all das stellt die Gegenwart bei immer mehr Menschen infrage. Das setzt eine Angstspirale in Gang, ganz im Geiste des britischen Philosophen Ber trand Russell, nach dessen These sich Menschen mehr vor der Unsicherheit fürchten als vor der Gefahr selbst. Und selbstverständlich verändert diese Pandemie der Abstiegsangst die Gesellschaft.

Das eine sind die Zahlen. Das andere sind die Menschen. Ein Elternabend in Norddeutschland. Es geht um die Frage, wie viel Geld jede Familie in die Klassenkasse einzahlen soll. Die meisten Mütter und Väter überbieten sich mit großzügigen Summen. 20, 30, 40 Euro? Nur eine Mutter sitzt blass am Fenster – und schweigt.

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Der Historiker und Publizist Paul Nolte spricht, was die Leistungen des Staates angeht, gern von „fürsorglicher Vernachlässigung“. Die Mittel- und Oberschicht haben das Armutsproblem aus Selbstschutz ausgeblendet. Armut aber verändert ein Land. „Armut ist wie ein Löwe: Kämpfst du nicht, wirst du gefressen“ lautet ein Sprichwort aus Tansania.

Der tägliche zermürbende Kampf um die eigene Existenz, die Scham, der Frust, die Schuldgefühle, die Verzweiflung über die eigene Ausgrenzung – all das hat die „Zeit“-Journalistin Anna Mayr, Tochter zweiter Langzeitarbeitsloser, in ihrem bitter-klugen Buch „Die Elenden“ eindrücklich geschildert. „Sie stehen unter andauerndem Stress. Sie wollen überleben.

Sie wollen niemandem zur Last fallen. Deshalb rauchen Sie. Deshalb essen Sie ungesund, und deshalb trauen Sie sich nicht, zum Arzt zu gehen. Mit denen da draußen haben Sie keine Berührungspunkte mehr. Mit denen, die in Cafés sitzen und an Kulturveranstaltungen teilnehmen. Wahrscheinlich fühlen Sie sich klein und machtlos, und kein gesellschaftlicher Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit kann Ihnen da raushelfen.“

Kein individuelles Versagen

Was also tun? Ein erster Schritt wäre, damit aufzuhören, Armut als individuelles Versagen zu diskreditieren, sondern sie als strukturelles Pro blem von höchster Dringlichkeit anzunehmen. Armut ist nicht unvermeidlich. Armut hat Ursachen und Bedingungen, die sie begünstigen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) nennt Kinderarmut „eine Schande für ein so reiches Land wie Deutschland“. Sie plant eine Kindergrundsicherung, die staatliche Leistungen bündeln und entbürokratisieren soll. Doch mit der Einführung ist frühestens im Jahr 2025 zu rechnen.

Es würde schon helfen, bei der Sprache sensibel zu sein. „Menschen mit wenig Geld sind nicht sozial schwach“, hat der Kabarettist Hagen Re ther mal gesagt. „Sie sind wirtschaftlich schwach. Oft sind eher die wirtschaftlichen Starken die sozial Schwachen.“