Putins Fassade bröckeltSanktionen erzielen immer mehr Wirkung gegen Russland
Moskau – Der erste Schlag aus dem Westen war hart und kam früh. Er traf Wladimir Putin, das angebliche strategische Genie, plötzlich und unerwartet.
In einem historisch beispiellosen Zusammenspiel gelang es Ende Februar staatlichen und privaten Finanzinstitutionen in der EU, in den USA, in Großbritannien, der Schweiz und Japan, die in ihren Staaten geparkten Auslandsguthaben der russischen Zentralbank einzufrieren.
Sanktion gegen russische Zentralbank unerwartet für Moskau
Der Effekt: Moskau konnte plötzlich nicht mehr an einen großen Teil seiner Sparbücher im Ausland. 388 Milliarden US-Dollar wurden für Putin plötzlich unzugänglich.
„Damit haben die Russen wirklich nicht gerechnet – das sehen wir anhand der Geldflüsse, die es in den Tagen zuvor noch gegeben hat“, sagt ein Insider aus einer westlichen Zentralbank, der wegen Verschwiegenheitspflichten über das Thema nicht offiziell reden darf.
Noch nie ist ein Staat mit diesem Ausmaß von Sanktionen belegt worden
Noch immer gilt im Westen das Vorgehen gegen die russische Zentralbank als „Big Bang“ der westlichen Sanktionspolitik, der große Gong, dem seither viele weitere Vibrationen folgten, angefangen vom Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift bis hin zu unzähligen Einzelsanktionen, vor allem im Bereich Handel, Finanzen und Technologie.
Noch nie in der Geschichte ist ein Staat von so vielen anderen Staaten der Erde mit einer so großen Fülle von Sanktionen belegt worden wie Russland im Jahr 2022. Damit international tätige Firmen noch den Überblick behalten, bieten EU-Behörden ebenso wie private Websites tägliche Aktualisierungen. Sage und schreibe 8716 Einzelsanktionen listete zu Beginn dieser Woche das „Russia Sanctions Dashboard“ der Firma Castellum.AI auf.
Trotzdem wächst Misstrauen im Westen
Doch im Westen wächst inzwischen Misstrauen. Während die Gaskrise Millionen von Menschen in der EU verunsichert, scheint in Russland alles weiterzugehen wie bisher. Mehr noch: Wegen steigender Preise kassiert Moskau für Öl und Gas sogar noch mehr als vor dem Krieg, auch der Rubel ist gestiegen.
Wie ein Puppenspieler, so scheint es, kann Putin vor allem die Deutschen an allen Gliedern zucken lassen, zuletzt mit der am Montag verfügten Drosselung der Nord-Stream-1-Lieferungen auf nur noch 20 Prozent. Ist Russland am Ende der Gewinner im Machtspiel mit dem Westen?
Russlands Jobverluste bleiben geheim
Eher ist so etwas im Gang wie eine gigantische optische Täuschung – zu der auch die Asymmetrie der Medienwelt auf beiden Seiten beiträgt. Während in deutschen Talkshows jeden Abend mit wachsender Beklommenheit die neuesten Ängste angesichts einer viel zu sehr von Russland abhängigen Energiewirtschaft diskutiert werden, simuliert Putins Staatsfernsehen dem eigenen Publikum gegenüber in gewohnt gleißendem Stil Stärke und Normalität.
Tatsächlich rutscht derzeit eine zunehmende Zahl russischer Unternehmen in die roten Zahlen. Den russischen Medien aber ist es verboten, darüber zu berichten. In Großunternehmen, die nichts mehr zu tun haben, organisiert der Staat Kurzarbeit null – die Leute können zu Hause bleiben. Kleineren Firmen wird verboten, Bilanzen zu veröffentlichen oder gar Mitarbeiter zu entlassen. Bei Unterstützungsbedarf sollen sie sich an den Staat wenden. Vor allem aber sollen sie schweigen. Russische Zoll- und Handelsstatistiken wurden in letzter Zeit zu Verschlusssachen.
In Wirklichkeit geht es schon abwärts
Janis Kluge, Russland-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, verfolgt seit fünf Monaten haarklein jede Veränderung in der russischen Wirtschaft. Sein Eindruck ist: Ein Teil der Sanktionen wird ihre Wirkung erst in den kommenden Monaten voll entfalten. Schon jetzt aber gehe es für Russland steiler bergab, als die westliche Öffentlichkeit dies wahrnehme.
Seit Februar ist das russische Bruttoinlandsprodukt bereits um 6 Prozent gesunken. Bis Jahresende dürfte sich das Minus auf 10 Prozent auswachsen. „Russland befindet sich also bereits in einer tiefen Rezession, ausgelöst durch die westlichen Sanktionen“, sagt Kluge in einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Russland fehlt es an Ersatzteilen in Hightechsektoren und Autoindustrie
Russlands Bedarf an Ersatzteilen, besonders in Hightechsektoren, kann nicht mehr gedeckt werden. Dass der praktische Effekt erst verzögert eintritt, hat mit Corona zu tun. Für einige Zweige der Wirtschaft war wegen der Pandemie eine längere Lagerhaltung vorgeschrieben worden. Zwar gibt es, wenn die letzten Lager leer sind, eine theoretische Möglichkeit der Beschaffung von Ersatzteilen auf Schwarzmärkten und über Drittstaaten – „darauf lässt sich aber keine Massenproduktion aufbauen“, betont Kluge.
In der russischen Automobilindustrie, nach internationalem Vorbild angelegt auf Just-in-Time-Produktion, ließ der Mangel an Chips die Produktion schon im Mai zusammenbrechen – um 97 Prozent. Investoren wie VW, Mercedes und Renault sind aus Russland verschwunden. Sie boten Hunderttausenden Beschäftigung. Inzwischen wird in den betroffenen Werken umgerüstet auf russische Eigenmarken. Der Lada Granta etwa kommt künftig in der Version Classic 2022 vom Band: ohne ABS, ohne Airbags, ohne Abgasreinigung – allerdings auch ohne Verkaufserfolg.
Russische Flugzeuge können in großen Teilen der Welt nicht mehr landen
Russische Zivilflugzeuge können in großen Teilen der Welt nicht mehr landen, nicht mehr nur wegen der Sanktionen, sondern auch wegen wachsender Sicherheitsbedenken angesichts nicht mehr gewarteter oder nicht mehr ausgetauschter Teile und Turbinen. Weil Produkte von Boeing und Airbus für Russland nicht mehr zur Verfügung stehen, investiert Putin jetzt auch auf diesem Feld eilends Milliarden in „nationale Lösungen“, etwa den Bau neuer Turboprop-Maschinen für den russischen Inlandsflugverkehr.
Es fehlt an Kapital und Arbeit
Westliche Experten glauben, Putin baue jetzt in seiner Not immer neue Kartenhäuser auf – die bald zusammenklappen werden. In Wahrheit fehle es dem Land an den Basics, Kapital und Arbeit. Für ausländische Investoren sei Russland indiskutabel geworden. Zudem verjage Putin auch noch die wenigen heimischen Fachkräfte.
Eine sechsstellige Zahl von zumeist jüngeren IT-Fachleuten hatte sich schon kurz seit Kriegsausbruch ins Ausland abgesetzt. Dieser ersten Auswanderungswelle im Frühjahr folgte in diesem Sommer eine zweite.
Sogar chinesicher Konzern Huawei fuhr Investitionen runter
Dies alles trübt sogar aus Sicht chinesischer Investoren mittlerweile das Bild Russlands. Zwar hatte die Regierung in Peking wenige Tage vor Kriegsbeginn im Februar eine „strategische Partnerschaft“ mit Russland bekundet. Schon im April aber fuhr auch der chinesische Hightechkonzern Huawei Investitionen und Personal in Russland runter: Die Geschäfte laufen einfach nicht.
Wie soll aus Russland noch einmal eine dynamische Wirtschaftsregion werden? Fachleute erwarten nach der jetzt in Gang gekommenen russischen Rezession keine schnelle Aufwärtsbewegung (V-Theorie) und auch keine langsame (U-Theorie).
Bevorstehender Modernitätsaverlust
Das Land werde durch den bevorstehenden gravierenden Modernitätsverlust vielmehr dauerhaft absinken auf ein niedrigeres Niveau. Die L-Theorie, glaubt Alexey Yusupov, Russland-Kenner der Friedrich-Ebert-Stiftung, sei das wahrscheinlichste Szenario – und zugleich das härteste für Land und Leute. Russland werde „um 30 Jahre zurückgeworfen“.
Hinter den Kulissen bröckelt es bereits beträchtlich. Erstmals seit vielen Jahren werden beispielsweise schon keine neuen Büroflächen in Moskau mehr geschaffen: nicht nötig. Landauf, landab geht zugleich die Zahl der Stellenanzeigen rapide zurück. Und in manchen Staatsbetrieben versuchen Personalchefs, überflüssig gewordenen Mitarbeitern eine Datscha-Lösung schmackhaft zu machen: Lohnlücken durch Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung sollen sie privat ausgleichen, durchs Beackern eigener kleiner Flächen rund um eine Hütte im Grünen.
Investoren wollen raus aus Russland
Unklar bleibt aber, ob und wann die sich ausbreitende neue Unsicherheit in Russland auch auf das politische System durchschlägt. Die „echte Arbeitslosigkeit“ in Russland sieht Yusupov je nach Branche zwischen 8 und 25 Prozent. Die Jobs von etwa 12 Prozent der offiziell beschäftigten Russen hingen an ausländischen Investoren.Ausländische Investoren aber wollen mit Russland möglichst nichts mehr zu tun haben, schon aus Rücksicht auf ihr Ansehen im eigenen Land und in der westlichen Welt. Viele Konzerne zogen sich aus Russland zurück, ohne dazu durch politische Beschlüsse von Regierungen gezwungen worden zu sein, Ikea zum Beispiel. Als Coca-Cola noch ein paar Wochen länger in Russland aktiv war, braute sich in den sozialen Netzwerken ein Shitstorm zusammen: Wie lange noch, wurde gefragt, wolle Coca-Cola Geschäfte machen in einem Land, das andere Länder überfällt und dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt?
Reputational risk der Firmen
Weder der Verkauf von Billy-Regalen noch von sprudelnden Limonaden war von den Regierungen der EU und der USA verboten worden. Dass die Russen jetzt dennoch auf beides verzichten müssen, liegt am „reputational risk“, das die Firmen für sich selbst sahen, einer Gefahr fürs eigene Ansehen.
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In diesen überschießenden, rein privatwirtschaftlich begründeten Entscheidungen sieht Velina Tchakarova, Direktorin des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik in Wien, einen besonders beachtlichen und sogar weltweit wirksamen Teil der Russland-Sanktionen. Sie ist Expertin für Geopolitik und hat ein besonderes Augenmerk auf ein Thema, das sie „Dragonbear“ (Drachenbär) nennt, die neue Verbindung zwischen Russland und China.
China von Entschlossenheit des Westens beeindruckt
„Die Chinesen haben sich das ganz genau angesehen“, sagt Tchakarova dem RND. In Peking gebe es die Sorge, bei einem Überfall Chinas auf Taiwan ebenfalls mit Sanktionen überzogen zu werden. Im Fall Russlands sei inzwischen deutlich geworden, dass viele Firmen dazu nicht erst gezwungen werden müssen.
Die Bereitschaft westlicher Konzerne, beim Rückzug aus Russland Geschäfte aufzugeben und ein Minus in Kauf zu nehmen, hat Teile der chinesischen Führung offenbar beeindruckt. Aufmerksam verfolgt wird derzeit in Peking auch die überraschend trotzige Grundhaltung der Deutschen, von denen eine Mehrheit weiterhin sagt, dass es nötig sei, sich Russland entgegenzustellen, auch wenn dies wirtschaftliche Nachteile bringe.
Indirekte Verteidigung Taiwans
Am meisten Kopfzerbrechen aber machen Peking die unberechenbaren Reaktionen einzelner großer westlicher Konzerne, denen es um ihr globales Ansehen geht – und die auch genug Einfluss hätten, das Ansehen Chinas zu schmälern. Dass etwa Apple aus Sorge ums eigene Image eines Tages die iPhone-Produktion in China beendet, ist und bleibt für Pekings Führung eine Schreckensvision.
Vielleicht verteidigen die westlichen Staaten derzeit in ihrem Ringen mit Russland – ohne es geplant zu haben oder jedenfalls ohne es zu laut zu sagen – auch bereits Taiwan. (rnd)