Schlagzeilen hat Sylt, die Insel der Schönen und Reichen, immer schon gern gemacht. Neu ist, dass das Nordseeeiland davon eine nach der anderen produziert. Ein Zustandsbericht.
Zwischen Chaos und ProtestSylt erkennt sich selbst kaum wieder
Es ist im Moment auch wirklich nicht leicht, Sylt zu sein. Freitag, der letzte im Juni, Strönwäi in Kampen – unter Urlaubern mit dem entsprechenden Kleingeld besser bekannt als „Whiskymeile“.
Am Ende dieser Meile also, über die die Schönen und die Reichen und die, die sich dafür halten, mit exklusiven Tragetaschen exklusiver Boutiquen flanieren, wo die Schönen und die Reichen und die anderen auf edlen Terrassen edler Clubs und Bars wie dem legendären Pony in lachsfarbenen Polohemden und Hosen aus der Zahnarztpraxis ihren Prosecco mit Bitterlikör trinken, wo Sylt sein eigenes, real existierendes Klischee ist, läuft gerade der Soundcheck.
Am späten Nachmittag wird „Kampen Jazz by Till Brönner“ beginnen, zwei Sommerabende mit Pauken und Trompeten, die Freiluftbühne lockt mit zwei Grammypreisträgerinnen und eben mit Till Brönner, dem Doyen der deutschen Jazzmusik. Nur, wie das in diesen Tagen von Sylt eben ist, wird es ruckeln, wird Tag eins zwar ein umjubelter Erfolg, der Samstag aber ins Wasser fallen. Amtliche Unwetterwarnung, ein Sturm zieht auf von Westen her, die Bühne muss eilig abgebaut, das Festival im Innenraum eines Veranstaltungshauses zu Ende gebracht werden.
Es ist gerade wirklich nicht leicht, Sylt zu sein. Die zurückliegenden Wochen auf der Nordseeinsel haben ihrem öffentlichen Bild zugesetzt, vor allem die Klimaaktivisten von der Letzten Generation, die Sylt und den Reichtum seiner Gäste als Ziel ihrer Aktionen ausgemacht haben, haben ihren Anteil daran.
Die Nachrichten im Überblick: 6. Juni, auf dem Flughafen Sylt wird ein Privatjet mit Farbe besprüht. 8. Juni, die Bar des Luxushotels Miramar in Westerland wird Opfer eines Farbanschlags. 14. Juni, Mitglieder der Letzten Generation graben den Rasen auf dem Golfplatz Budersand um und pflanzen Setzlinge. 16. Juni, Aktivisten attackieren eine der Luxusboutiquen auf der „Whiskymeile“ mit Farbe, dabei kommt es zu einer Art Gegenangriff – ein Mann geht mit einer Farbspraydose auf die Protestgruppe los. Ein denkwürdiger Monat liegt also hinter einer Insel, die gerade ihre Wunden leckt.
Im Miramar sind sie damit schon recht weit, der Barbereich glänzt wieder. Zudem hat das altehrwürdige Haus aus der Not eine Tugend gemacht und einen Teil der eingesauten Flaschen, die es hinterm Tresen mit der Farbe Orange erwischt hatte, medienwirksam versteigert.
44.000 Euro gehen nun an die Kinderonkologie in Wenningstedt.
Und dann auch noch die Punks
Alles wieder gut also? Da hat man die Rechnung nicht mit den Punks gemacht. Im Sommer 2022 waren sie zu Hunderten per Zug über den Hindenburgdamm gekommen, angelockt von den Möglichkeiten des 9-Euro-Tickets und der Aussicht darauf, die feine Gesellschaft mal etwas aufmischen zu können.
Die „Chaostage“, eine Reminiszenz an die Punktreffen auf Sylt in den Achtzigern und Neunzigern, machten Schlagzeilen mit Pöbel, Pils und Platzverweisen. Seit einigen Tagen steht fest: Es wird eine Neuauflage geben. Im Internet rufen die Initiatoren zum „Protestcamp“ 2023 auf, von Ende Juli bis Ende August. Wie viel bloß muss diese Insel derzeit noch ertragen? Vom parteilosen Bürgermeister Nikolas Häckel ist darauf gerade keine Antwort zu erwarten, er ist krankgeschrieben, leidet an Burnout. Es kommt auch wirklich einiges zusammen hier. Aber es gibt ja auch noch den Bürgermeister der Ohren.
Vor seinem Studio am Ende der Westerländer Friedrichstraße, in Sichtweite zum Miramar, einen Sandwurf entfernt vom Strand, der kürzlich zu einem der „schönsten Instagram-Strände Europas“ gekürt worden ist, sitzt Carsten Köthe auf einem Poller und grinst zufrieden in die Sonne. So geht Pause, so geht Sylt. Probleme? Hier? Köthe, in Schleswig-Holstein eine Radiolegende, seit 2015 mit „R.SH auf Sylt“, winkt ab und rät: alle mal runterkommen bitte. „Wenn Sylt obendrüber steht, dann ist erst mal die Aufmerksamkeit riesengroß und alle fahren das volle Programm“, sagt Köthe. „Aber ich glaube, wir tun ganz gut daran, mal ein bisschen abzurüsten.“
Das versucht er in seiner Sendung regelmäßig auf seine Art, informiert zwar über das, was passiert, auch über die unangenehmen Dinge, aber zur allgemeinen Hysterie beitragen? Sollen andere, Köthe hält's so knapp wie möglich. „Ich meine, was wollen diese Leute denn? Sie wollen Aufmerksamkeit. Und je mehr wir ihnen geben, desto mehr wird davon Kapelle gemacht.“ On air wird's mit ihm trotzdem nicht langweilig, der 61-Jährige weiß, wie man die Leute zu unterhalten hat. Und wie man sie auf kumpelige Art auch ein wenig erziehen kann.
Die Verkehrsmeldungen an diesem Freitagnachmittag: Sieht gut aus auf den Straßen Sylts, aber bitte trotzdem nicht schneller als die Polizei erlaubt. „Wir wollen ja nicht am letzten Tag im Juni noch Ärger haben, wenn es doch den ganzen Monat lang so gut geklappt hat.“ Und ab in den nächsten Musikblock. Auf der L 24 Richtung Kampen erliegt dann trotzdem so mancher Fahrer dem Reiz, den mit dem Autozug von Niebüll auf die Insel geschafften Luxuswagen auf freier Straße davongaloppieren zu lassen.
Mit jedem Kilometer, den es nördlicher geht, steigt der Anteil an Porsches und sinkt derjenige der Autos mit einheimischem NF-Kennzeichen für Nordfriesland. Hamburg, München, Salzburg – aus allen Ecken des deutschsprachigen Raums kommt man nach Sylt, um in teuren, reetgedeckten Anwesen zu residieren, um standesgemäß zu feiern. In erster Linie aber: um seine Ruhe zu genießen.
Einfach mal Ruhe finden
Abgeschiedenheit ist weiterhin der große Verkaufsschlager auf der Insel, daran hat sich auch durch die Boomjahre vor Corona – mittlerweile ist man bei den Übernachtungszahlen mit 4,76 Millionen im Jahr 2022 fast schon wieder auf Vorkrisenniveau (2019: 4,83 Millionen) – nichts geändert. Wer Distinktion und Diskretion sucht, der bekommt sie auf Sylt. Das galt in den Sechzigern, als Playboy und Sylt-Fan Gunter Sachs die Insel kraft seiner Schönheit und seines Reichtums endgültig zu dem machte, wonach in den folgenden Jahrzehnten die Menschen hier suchen sollten.
Und das gilt noch heute, Günther Jauch oder Jürgen Klopp besitzen auch deshalb ein Häuschen auf Sylt, weil sie hier, bei aller Promidichte, in Ruhe gelassen werden. Und selten wohl war diese Dichte so hoch wie im vergangenen Jahr, als Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und Franca Lehfeldt die vielleicht schillerndste Hochzeit feierten, die die Insel je erlebt hat. Auch Sanni und Beule wollen heiraten auf Sylt, noch in diesem Sommer. Sanni, Beule und U-Boot, ihr Trauzeuge, sind Punks. Seit einigen Wochen ist das Trio auf der Insel, so genau weiß es das selbst nicht. Was es aber ziemlich sicher weiß: Im Moment sind sie hier die Einzigen ihrer Art.
Man kennt sich, man schätzt sich
Dass Ende Juli die große Punkwelle rüberschwappen soll, ist ihnen einigermaßen egal. „Uns interessiert das nicht“, sagt U-Boot. „Wir haben hier unsere kleine Spaßtruppe.“ Man kennt sich, man schätzt sich. Hier, das ist der Platz vorm Edeka in der Friedrichstraße, so etwas wie das Postkartenmotiv für die Szene, tagsüber gehört er ihnen gerade ganz allein. Nachts pennen sie mal hier, mal da, sagen sie, in seltenen Fällen auch mal in der Zelle. Aber Ärger gibt's meist nur, wenn U-Boot wieder im Park in die Bäume klettert oder irgendeinen anderen Scheiß macht.
„Eigentlich lässt man uns in Ruhe“, sagt Sanni, Beules Verlobte, wie er aus Berlin. Dem Polizeichef, sagt die gelernte Floristin, habe sie kürzlich Blumensamen für seinen Garten geschenkt. Man kennt sich. Und, ja, auf merkwürdige Weise schätzt man sich auch. „Jeder“, sagt Radiomann Köthe, „ist auf der Insel willkommen, solange er die Insulanerinnen und Insularer respektiert, solange er die Natur respektiert und sich ein bisschen an die Regeln hält. Das gilt für die, die grüne Haare haben. Das gilt genauso für die, die mit Polohemd und hochgestelltem Kragen Kampen auf links drehen wollen.“ Und es gilt natürlich auch für die Klimaaktivisten.
Sylt war immer schon widersprüchlich
Nur verstoßen die gerade gegen den Inselkodex – finden ausgerechnet die Punks. „Die verursachen nur Müll“, sagt U-Boot. „Mit denen wollen wir nichts zu tun haben.“ Die breite Front gegen „die da oben“, die sich im Meer der Schlagzeilen, die diese Insel produziert, zu spiegeln scheint, sie ist offenbar nur ein Trugbild.
Sylt war schon immer widersprüchlich, hat diesen Widerspruch trotz seiner bescheidenen Größe von nicht einmal 100 Quadratkilometern aber stets ganz gut ausgehalten. „Sylt ist eine Insel für alle – für Bürgerinnen, Bürger und Gäste, von denen sich viele auf der Insel heimisch fühlen“, lässt das Presseteam der Gemeinde dazu ausrichten. „Wir sind mit allen im Dialog und wollen angemessene und gute Lösungen für jede Herausforderung finden.“ Klingt nach PR, ist es auch, aber dadurch ist es nicht weniger wahr: Sylt arbeitet die Dinge gerade mit einer Gelassenheit ab, die man sich nur erlauben kann, wenn man weiß, dass die Leute sowieso kommen.
Abgeschreckt von Licht-Installation
Die Schönen, die Reichen und die anderen. Die Punks, die Klimaaktivisten und die, die nach nichts als Stille suchen. Selbst diese Orte gibt es noch auf Sylt, in Archsum etwa oder in der Braderuper Heide. Sylt ist für alle da, und doch fühlen sich die Punks von einem Ort ausgeschlossen: Das mit dem Rathauspark, sagen die drei aus der Friedrichstraße, sei keine gute Idee. Die Gemeinde hat dort, wo sich im vergangenen Jahr zwei Dutzend Punks breitgemacht hatten, vor einiger Zeit eine Lichtinstallation aufbauen lassen.
Nicht nur vom nun verbauten Platz sind die Punks genervt. Auch von den Kosten von knapp 100.000 Euro. „Steuerverschwendung“, sagt U-Boot. Auf Sylt braucht man kein künstliches Licht. Es gibt genügend natürliches, kaum irgendwo in Deutschland ist es so reichhaltig wie hier.
Für Carsten Köthe jedenfalls, den Mann aus dem Radio, gibt es nichts Schöneres, als mit Freunden am Strand zu sitzen, zuzuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt, und sich zu freuen, „wenn sie am nächsten Morgen auf der anderen Seite wieder aufgeht“. Über das bisschen Schatten auf der Insel, von dem gerade so viel die Rede ist, können sie da nur milde lächeln. Denn eigentlich ist es doch gar nicht so schwer, Sylt zu sein.
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