Alfons Kenkmann ist Historiker und stellt fest: Viele Schulbücher arbeiten mit antijüdischen Klischees.
Experte über Antisemitismus in Schulbüchern„Israel erscheint immer als kriegführender Staat“
Herr Professor Kenkmann, Sie waren Mitglied der Kommission, die im Auftrag des nordrhein-westfälischen Bildungsministeriums Schulbücher mit Blick auf die Darstellung jüdischer Geschichte überprüft hat. Das Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Schulbücher keine antisemitischen Botschaften transportieren, wohl aber an stereotypen Darstellungen kranken.
Alfons Kenkmann: Das gilt auch für den Bereich, den ich untersucht habe: Es gibt nach wie vor eine Fülle von Stereotypen. Die Befürchtung des Zentralrats der Juden in Deutschland – der die Untersuchung angestoßen hat -, dass es regelrechten Antisemitismus in Schulbüchern gibt, kann man glücklicherweise entkräften. Aber antijüdische Stereotype gibt es, dafür finden sich zahlreiche Beispiele.
Welchen Zeitraum haben Sie persönlich untersucht?
Meine Schwerpunkte waren die Darstellung des Nationalsozialismus sowie die Zeit nach 1945 mit dem Fokus auf Israel. Wir haben uns in der Kommission aufgeteilt: Antike, Mittelalter, deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik und so weiter.
Im Kaiserreich waren antisemitische Postkarten populär
Betrifft das allein die Texte?
Mir ist aufgefallen, dass es häufig bildliche Darstellungen sind, in denen das in besonderem Maße thematisiert wird. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Kaiserreich: Dort werden Juden etwa auf damals außerordentlich populären Postkarten als über die Maßen geldgierig gezeichnet. Für Schulbücher stellt sich nun folgendes Problem: Sie dürfen eine solche Postkarte mit antijüdischer Stoßrichtung ja durchaus zeigen – als Dokument für den Zeitgeist, der damals herrschte. Es handelt sich schließlich um eine zeitgenössische Quelle.
Die Kontextualisierung wird aber oft vernachlässigt?
So ist es – man muss deutlich machen, dass solche Postkarten ein Medium waren, um Antisemitismus zu verbreiten. Das muss man klar machen, wenn man sie abdruckt – gerade in Deutschland, wo diese Verbindung zwischen Juden und Geld nahezu reflexhaft bereits seit dem Mittelalter hergestellt wird und bekanntermaßen neben weiteren Verschwörungslügen als Begründung für Pogrome herhalten musste.
Die jüdische Reaktion auf Diskriminierung wird unterschlagen
Was ist Ihnen noch aufgefallen?
Geschichtsunterricht muss multiperspektivisch sein, nicht zuletzt durch die Nutzung unterschiedlicher Quellen und deren triftiger Interpretation. Auch hier kann man an der Darstellung des jüdischen Lebens während des Kaiserreichs sehr plastisch deutlich machen, dass diese Multiperspektivität in Schulbüchern vernachlässigt wird: Die Reaktion der Jüdinnen und Juden auf Diskriminierung und Antisemitismus fehlt. Sie haben sich schließlich entschieden zum Beispiel gegen Schmähbotschaften auf Postkarten gewehrt.
Es gibt das prägnante Beispiel des Antisemitismusstreits, den der preußische Historiker Heinrich Treitschke 1878 vom Zaun gebrochen hat, indem er erklärte "Die Juden sind unser Unglück" …
…dagegen gab es richtige Interventionen, und das muss sehr viel deutlicher in Schulbücher eingearbeitet werden.
Es muss also mehr Kontext her, die jüdische Perspektive muss viel stärker betont, und die Bildsprache muss klarer eingeordnet werden?
Schüler und Schülerinnen lernen viel stärker visuell als früher – also muss das Bild viel genauer analysiert werden. Und mit Blick auf die jüdische Perspektive möchte ich noch einmal betonen, wie wichtig es ist, die Reaktion in der Zeit selbst zu zeigen, im Sinne der pluralen Perspektive von Quellen.
Wie wird Israel im Bild dargestellt? Auch hier kommt es häufig zur stereotypen Überzeichnung eines martialischen Militärstaats.
Man kann auf lange Sicht hin belegen, dass hier zählebige Festlegungen stattfinden: Israel erscheint immer als kriegführender Staat, ebenso, wie beharrlich ein Konfliktnarrativ verbreitet wird – Israel, das bedeutet immer und nichts anderes als Konflikt. Dass es sich hier um einen demokratischen Staat handelt, wie man im Übrigen an den aktuellen Demonstrationen gegen die Regierung sieht, dass es sich um ein enorm innovatives Land handelt, auf dem Umweltsektor, in der Justiz oder durch die Gründung zahlreicher Start-ups, das gerät vollständig in den Hintergrund. Den Vordergrund prägen übermächtig die Kriegsbilder nach dem David-Goliath-Prinzip. Immer kämpfen palästinensische Jugendliche gegen den israelischen Panzer, und immer wird diese Auseinandersetzung sehr häufig selektiv auf die Siedler-Problematik konzentriert.
Wer sind die Autorinnen und Autoren der Schulbücher?
Es handelt sich oft um Lehrkräfte aus der Praxis. Ungern werden Vertreter aus Wissenschaft und Didaktik genommen, denn die hält man für allzu theorielastig. Lieber hält man sich an die Praxis und beschränkt sich auf universitäre Beratung. Es gibt meist einen Stamm von Schreibenden, und meine Erfahrung ist: Entweder ist man noch sehr jung und kommt etwa gerade aus dem Referendariat, oder man ist schon etwas älter als Schulbuchautor- oder Autorin – dazwischen hat man durch Familiengründung oder anderweitige Berufs- und Karrierepläne weniger Zeit, an einem solchen Buch mitzuarbeiten.
Wie viele Bücher haben Sie analysiert?
Es war der Gesamtbestand, was eher selten ist bei solchen Untersuchungen. Es handelt sich um 252 Bücher nicht allein zur Geschichte, sondern auch aus den Bereichen Geografie, Deutsch, Politik, Gesellschaftslehre oder Religion. Man kann sich dabei auch nicht allein auf den Antisemitismus beschränken, man muss sich die Darstellung jüdischen Lebens in ihrer Gesamtheit anschauen. Und dieser Aspekt, zum Beispiel das jüdische Leben nach 1945 in Deutschland, kommt entschieden zu kurz.
Zur Person Alfons Kenkmann ist seit Oktober 2003 Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Leipzig. Er ist einer der Gründungsdirektoren des dortigen Zentrums für Lehrerbildung und Schulforschung und war Mitglied der Kommission des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung - diese hat im Jahr 2019 von der damaligen Landesregierung Nordrhein-Westfalens unter Armin Laschet den Auftrag erhalten, Schulbücher auf antisemitische Inhalte zu untersuchen.
NRW folgte damit einem Appell des Zentralrats der Juden in Deutschland und ist das erste Bundesland, das eine detaillierte Untersuchung dazu vorlegt. Sie wird Ende des Monats der Öffentlichkeit vorgestellt.
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