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Mathe, Englisch, FürsorgeIm Brennpunktviertel steht Tugend auf dem Stundenplan

Lesezeit 3 Minuten
Seidel-Rarreck sitzt in der Malteserschule im Kreis ihrer Schülerinnen und Schüler

Seidel-Rarreck: „Wenn die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gut ist, kann man super lernen.“

Damit Schüler im Unterricht nicht nur Mathematik, Biologie oder Deutsch lernen, bietet ein Verein Unterricht mit Fokus auf Ethik und Werte an.

„Wo ist dir heute Fürsorglichkeit begegnet“, fragt Ina Seidel-Rarreck vom Verein „Virtues Project“ einen der Schüler. Der ist sich unsicher, ihm falle nichts ein, meint er. Seidel-Rarreck fragt weiter: „Haben deine Eltern dir heute Frühstück gemacht?“ Der Schüler schüttelt den Kopf, das mache er sich immer selber. „Dann hast du dir heute selbst Fürsorge gezeigt“, lobt Seidel-Rarreck den Schüler.

Die Malteserschule liegt in Gelsenkirchen-Neustadt, einem Brennpunktviertel. Für die Schüler steht heute nicht Mathematik auf dem Stundenplan, sondern „Tugendunterricht“.

„Tugendunterricht“: Projekt aus Kanada in Gelsenkirchen umgesetzt

Ursprünglich stammt das Projekt aus Kanada und wurde von zwei Psychologen in den Achtzigerjahren entwickelt. Auch in Deutschland haben sich Trainer zusammengeschlossen, der Verein bietet inzwischen Online-Coachings und Seminare für Lehrer an. „Tugenden als Begriff sind nicht geschützt“, erklärt Seidel-Rarreck. Fürsorge, Mitgefühl oder Höflichkeit seien aber in allen religiösen Schriften zu finden. Dazu handle es sich um Fähigkeiten, die man gezielt einsetze. Fleißig sein bis zum Burnout sei nicht das, was ihr Unterricht vermittle: „Eine Tugend ist immer eine Charakterqualität in der ausgewogenen Mitte.“

Mit einem Tag im Klettergarten ist es nicht getan
Ina Seidel-Rarreck, Trainerin vom Verein Virtues Project

Seidel-Rarreck sieht die Arbeit ihres Vereins als Antwort auf die Bildungsfrage, von einer Kultur der Fehlersuche zu einer Kultur der Wertschätzung gegenseitiger Qualitäten zu kommen und Kinder nicht nur in Mathematik und Deutsch, sondern auch ethisch-moralisch zu erziehen. „Mit einem Tag im Klettergarten ist es nicht getan.“

Kultur der Wertschätzung ist das Ziel

Mit einfachem Lob wie „Klasse gemacht“, würden die Schüler ihre eigenen Qualitäten und Fähigkeiten gar nicht erkennen. Stattdessen sollten Lehrer Tugenden wie Geduld, Fleiß oder Mitgefühl hervorheben. „Das sind Vokabeln, die muss ich als Lehrer kennen.“

Um die Tugend Höflichkeit zu trainieren, führt Seidel-Rarreck ein Begrüßungsritual mit den Schülern durch: Sie steht an der Tür zur Klasse und heißt jede Schülerin und jeden Schüler einzeln willkommen. Dabei sollen sie üben, Augenkontakt herzustellen. Manche von ihnen treten selbstsicher vor Seidel-Rarreck, andere hasten peinlich berührt an ihr vorbei.

Tugendunterricht hat sich bewährt

Durch die Übung soll die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler verbessert werden. So können Lehrer direkt zu Schulbeginn sehen, wenn es einem Schüler nicht gut geht. „Wenn die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gut ist, kann man super lernen“, argumentiert Seidel-Rarreck. Die Lehrer nähmen immer auch eine Vorbildfunktion für die Kinder ein. Zwar seien die Lehrer der Malteserschule erst skeptisch gewesen, das Programm käme inzwischen aber gut an. Mittlerweile forderten die Schüler Höflichkeit sogar ein.

Um die Geduld der Schüler zu trainieren, hat Seidel-Rarreck eine weitere Übung mitgebracht: Die Uhr im Klassenzimmer wird abgehangen, und die Schüler sollen schätzen, wann eine Minute vergangen ist. Jeremi schließt die Augen, zählt hochkonzentriert die Sekunden. Die Schüler kennen die Übung schon, nach 55 Sekunden ruft der erste von ihnen: „Stop!“ Das sei ein relativ gutes Ergebnis, meint Seidel-Rarreck, in Zeiten von Smartphones und Social Media würden viele Schüler beim ersten Versuch oft nur 40 Sekunden durchhalten.

Es ist eine Verrohung der Kinder zu erkennen
Ina Seidel-Rarreck, Trainerin vom Verein Virtues Project

Aus Sicht von Seidel-Rarreck ist es gerade bei Kindern wichtig, Tugenden zu fördern und auszubilden. Auf Social-Media Plattformen wie TikTok würden sie auf teils verstörende Videos stoßen, die sie ungefiltert wahrnähmen und weiterschickten. „Es ist eine Verrohung bei den Kindern zu beobachten“, kritisiert sie, es mangele an ethisch-moralischer Werteerziehung für die Kinder, besonders in Zeiten von Sozialen Netzwerken.

Gerade für die Zukunft der Schüler im Beruf sei der Unterricht enorm wertvoll, denn da käme es nicht auf eine Eins oder Vier auf dem Zeugnis, sondern auf zwischenmenschliche Fähigkeiten an. Dort brauche man Tugenden wie Pünktlichkeit, Vertrauen oder Zuverlässigkeit. Bei den Schülern scheint der Unterricht gut anzukommen: Nach der Stunde spricht einer von ihnen Seidel-Rarreck auf dem Gang an: „Hat Spaß gemacht heute!“