Nach einer neuen Studie werden Lehrkräfte immer häufiger zu Opfern von Gewalttaten. Ein Betroffener berichtet von einer Messerattacke. Das Schulministerium in NRW ist für das Thema „sensibilisiert“.
Gewalt an Schulen nimmt zu„Ich stech’ dich ab!“ – Schüler mit Cutter-Messer attackiert
Es geschah nachmittags, in den letzten Schulstunden. Ein Schüler brüllt nach einigen Provokationen: ‚Ich stech dich ab!‘ und stürmt mit einem Cutter-Messer auf einen anderen Schüler los. „Ich habe nicht groß nachgedacht und stellte mich dazwischen. Ich habe den Schüler auf Distanz gehalten, und weil er noch derart in Rage war, hat er auf mich eingestochen und mich am linken Rippenbogen getroffen.“ Der Lehrer, der dies berichtet, möchte anonym bleiben. Er arbeitet nach wie vor an der Schule.
Wenn von Gewalt an Schulen die Rede ist, kommt einem die klassische Schulhofprügelei in den Sinn: Gewalttätige Auseinandersetzungen unter Schülern – derlei Konflikte sind wahrscheinlich so alt wie die Schule selbst, und sie haben es in die Weltliteratur geschafft, man denke nur an Robert Musils „Die Verwirrung des Zöglings Törleß“. Die Schule, eine auch heute von Leistungsdruck, sozialem Sprengstoff, Stress, aber auch von Langeweile und Pubertätswirren geprägte Institution, scheint höchst anfällig für Gewalt zu sein.
Zunehmend trifft diese auch eine weitere Gruppe, nämlich das Lehrpersonal, wie eine aktuelle Untersuchung des Forsa-Instituts für Sozialforschung und statistische Analysen zeigt. Dem Ergebnis dieser bundesweiten Umfrage unter Schulleitungen zufolge kam es an zwei Drittel der befragten Schulen in den vergangenen fünf Jahren zu psychischer Gewalt wie Beleidigungen, Bedrohungen oder Belästigungen. Ein Drittel meldete, dass Lehrkräfte Opfer von Cyber-Mobbing wurden, also von Diffamierung im Internet. In einem weiteren Drittel der Schulen kam es zu körperlichen Angriffen auf Lehrpersonal oder Schulleitungen. Wie viele Vorfälle es genau gab, darüber sagt die Erhebung im Auftrag der Lehrergewerkschaft „Verband Bildung und Erziehung“ (VBE) nichts aus.
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Die Zündschnur brennt durch
Der Schüler, der ihn mit dem Cutter-Messer am Brustkorb verletzte, sei zuvor nicht in dieser Weise auffällig geworden, erzählt der Lehrer – „er galt als schwierig, doch dass die Zündschnur so durchbrennt, damit hatte niemand gerechnet. Als es passierte, war er 14, 15 Jahre alt, er war in der neunten Klasse. Ein robuster Typ, der auch schwerer war als ich. Ich habe ihn fixiert, und als er sich beruhigt hatte, habe ich ihn aus dem Klassenraum heraus bugsiert und ihm – da ich allein war – zwei kräftige Jungs an die Seite gestellt.“
Dass Vorkommnisse solcher Art an der Tagesordnung sind, glaubt NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) nicht. Dennoch nehme die Landesregierung das Problem von Gewalt an Schulen ernst und sei sensibilisiert. „Gewalt hat an unseren Schulen keinen Platz“, sagte Feller, als das Thema kürzlich sogar im Düsseldorfer Landtag verhandelt wurde. Es brauche jedoch einen differenzierten Blick. Im noch stark von den Auswirkungen der Corona-Pandemie geprägten Jahr 2021 sind nach Angaben des Schulministeriums bei einem eigens für Lehrkräfte eingerichteten Sorgentelefon, der „Sprech:ZEIT 24/7“, insgesamt 2.704 Anrufe eingegangen. Die meisten davon betrafen Themen zu „Psychischen Belastungen“ (29,97 Prozent), „Belastungen am Arbeitsplatz“ (20,36 Prozent), „Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz“ (12,38 Prozent) und „Belastungen durch Krankheit“ (10,42 Prozent). Der Anteil der Anrufe, die „Gewalt am Arbeitsplatz“ zum Thema hatten, belief sich im Jahr 2021 auf 0,49 Prozent.
Allerdings halten 49 Prozent der von Forsa befragten Schulleitungen Gewalt an Lehrpersonen für ein zunehmend tabuisiertes Phänomen – das sei vor zwei Jahren noch anders gewesen und bedeute, dass viele Taten erst gar nicht zur Sprache kämen. Verübt werden sie nicht allein von Schülerinnen und Schülern, sondern auch von deren Eltern, und zwar in allen drei Bereichen – als psychische und physische Gewalt sowie als Cyber-Mobbing.
Druck von den Eltern
„Es kommt verstärkt zu Denunziationen im Internet, die auch mit Filmen versehen sind – das verunsichert die Lehrkräfte“, sagt Klaus Köther, Gesamtschullehrer und stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft VBE-Nordrhein-Westfalen. Er berichtet auch von Eltern, die massiven Druck ausüben, was ebenfalls eine Form der Gewalt darstelle. „Diese Eltern sehen zum Beispiel nicht ein, dass ihr Kind auf der Gesamtschule keinen Gymnasialabschluss bekommt“, so Köther. „Gewalt geht auch von manchen Führungskräften aus – sie ist auf vielfältige Weise im System vertreten.“
Feller betonte, die Landesregierung setzte sich für den Schutz und die Sicherheit der Beschäftigten ein. „Niemand muss Übergriffe und gewalttätiges Verhalten im Dienst für das Gemeinwohl hinnehmen.“ Schon vor der Befragung habe man Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt ergriffen, vor allem im präventiven Bereich - etwa mit einem Antimobbing-Projekt. Noch als Regierungspräsidentin in Münster gab Feller eine Broschüre zum Thema Gewalt an Schulen heraus, im Jahr 2005 – die Erkenntnis, dass dieses Problem auch in NRW angegangen werden muss, ist also schon älter.
Wie sinnvoll ist es Schüler zu verklagen?
Das betrifft nicht zuletzt die Rechtslage angesichts der bestehenden Strafmündigkeit ab 14 Jahren: Lehrkräfte sind sich in der Einordnung und Anwendung der ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen nicht sicher, sodass oft eine erforderliche klare Reaktion auf aufkommende Gewaltanwendung unterbleibt. Klaus Köther nennt einen weiteren Grund: „Aus pädagogischer Sicht ist es häufig nicht sinnvoll, Schülerinnen oder Schüler zu verklagen. Denen geht es schlecht genug – von Erwachsenen allerdings erwarte ich schon ein angemessenes Verhalten.“
Auch das erleben Lehrkräfte als Formen von Gewalt: Wenn sie beim Betreten des Klassenraums an der Tafel lesen müssen „Die Alte muss weg“. Wenn während eines Schlichtungsversuchs eine Schülerin außer sich gerät und die Türe zuknallt – eine Lehrerin wurde dabei so stark an der Hand verletzt, dass zwei tiefe Wunden entstanden. Und dann die Schmähungen: „Beleidigungen wie ‚Hurensohn‘ sind fast alltäglich“, so ein Lehrer, der ebenfalls nicht mit Namen genannt werden will.
„Wir leben in einer aufgeregten Zeit – das schlägt sich in den Schulen nieder“, so Köther. „Was mich während der Corona-Krise überrascht hat, war die Intensität der psychischen Probleme. Jungen mit Essstörungen, das gab es früher weniger. Was aktuell hochkocht, sind Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen von Geflüchteten – zwischen solchen, die schon länger hier sind zum Beispiel und die nun den Ukrainern vorwerfen, dass ihnen Vergünstigungen zugutekämen.“ Gewalt gegen das Lehrpersonal, so die Beobachtung des Lehrers, gehe zunehmend von sogenannten Querdenkern aus. Und es komme zu einem Perspektivenwechsel: „Früher waren die Schülerinnen und Schüler selbst schuld, wenn sie schlechte Noten nach Hause brachten, und heute wird die Schuld häufig den Lehrkräften zugeschoben. Auch das ist eine Form der Gewalt: Dem Lehrpersonal die Kompetenz abzusprechen, wenn sie nicht so handeln, wie die Eltern es gerne hätten. Pauschalisieren lässt sich das natürlich sind - das sind Einzelfälle, aber sie häufen sich.“
Das Beratungstelefon: Das Ministerium für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen bezeichnet die „Sprech:ZEIT 24/7“ als „Eingangstor zu einer psychosozialen Beratung“. Über den damit beauftragten betrieblichen Dienst stehen in allen fünf Regierungsbezirken 24 Stunden am Tag über die gesamte Woche hinweg Expertinnen und Experten zur Kontaktaufnahme zu sämtlichen psychosozialen Themen zur Verfügung. Das Angebot ist kostenfrei und anonym und kann auch bei persönlichen oder privaten Fragen in Anspruch genommen werden. Bei Bedarf besteht jederzeit die Möglichkeit, eine persönliche Beratung anzuschließen.
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