Der bekannte Fanforscher und Wissenschaftler Harald Lange spricht im Interview über die großen Konfliktherde zwischen der aktiven Fanszene, dem DFB und den Vereinen wie dem 1. FC Köln.
Nach Rekordstrafe für den 1. FC KölnFanforscher Lange: „So kann es nicht mehr weitergehen“
Herr Lange, der DFB-Kontrollausschuss fordert vom 1. FC Köln nach den Vorkommnissen im Derby gegen Borussia Mönchengladbach 595 000 Euro. Noch nie wurde ein Verein in Deutschland mit einer höheren Geldstrafe belegt. Wie ordnen Sie die Rekordstrafe ein?
Prof. Dr. Harald Lange: Das ist eine irrsinnig hohe Summe. Und sie wird das konterkarieren, was seit Jahren zu beobachten ist: Die vom DFB ausgesprochenen Strafen werden zwar immer höher, doch ganz gleich, wie hoch sie auch sind: Sie werden nicht dazu führen, dass Pyrotechnik in den Stadien eingedämmt und das Verhalten verändert wird. Im Gegenteil: Die aktiven Fanszenen, die Ultras, sehen diese Strafen als eine Art Auszeichnung, Ansporn an und werden alles noch weiter eskalieren lassen. Der Null-Toleranz-Weg ist gescheitert. Spätestens diese Rekordstrafe für den 1. FC Köln sollte der DFB-Kontrollausschuss zum Anlass nehmen, um sich zu fragen: Was will er mit den irrsinnig hohen Strafen bezwecken? Wäre es nicht endlich an der Zeit, einen anderen Weg zu bestreiten und nach Kompromissen und Lösungen zu suchen? Ich prognostiziere: Wird der Weg beibehalten, wird sich die Situation noch weiter verschlechtern.
Der FC akzeptiert den Strafantrag nicht. Wie sehen Sie die Chancen des Klubs?
Es ist richtig, dass der FC gegen die Strafe vorgeht. Spätestens jetzt sollte man das ganze System der Verbandsstrafen infrage stellen. Wohin soll es noch führen? Vereine wie der FC haben sicherlich sehr viele sicherheitstechnische oder gewaltpräventive Maßnahmen vorgenommen, die sich auch nachweisen lassen. Trotzdem werden sie derart hart bestraft. Natürlich gibt es ein Problem mit einigen Fans oder Ultras, das lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Doch noch größer ist das Problem der DFB-Rechtsprechung. Bis 2012 waren alle Beteiligten, der DFB, die Vereine und die Fanszene auf einem guten Weg und standen bereits vor einer Lösung. Federführend war der damalige DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn. Ein Fachmann, der damals Großartiges geleistet hat und mittlerweile bei der Fifa Sicherheitsdirektor ist. Damals gab es noch Runde Tische und einen vielversprechenden Dialog. Doch diesen Dialog hat die DFB-Führung seinerzeit einseitig aufgekündigt. Das war ein schwerer Fehler. Wissen Sie: Als Sportsoziologe habe ich die Entwicklung eingehend beobachtet und mit vielen Fans und eben auch der aktiven Fanszene gesprochen. Für sie hat der Einsatz von Pyrotechnik auch eine symbolische Ebene. In einer Zeit, in der sich nachweislich der Profifußball immer mehr von der Basis entfernt, wollen sie sich mit vielen Aktionen nicht nur Gehör verschaffen, sondern auch Macht demonstrieren. Durch immer höhere Strafen oder Androhungen werden sie damit ganz sicher nicht aufhören.
Was wären denn die ersten Schritte, damit sich die unversöhnlichen Seiten, also DFB, Polizei und Fans, wieder näherkommen?
Der Ball liegt in erster Linie beim DFB-Kontrollausschuss. Das Problem ist seit einer Dekade bekannt und schaukelt sich immer weiter hoch. Wenn man wieder mehr aufeinander zugehen und der DFB über seinen eigenen Schatten springen würde, dann könnte ein Konsens auch jetzt noch erreicht werden.
Welche Rolle spielt der langjährige DFB-Kontrollausschussvorsitzende Anton Nachreiner?
Von ihm hört man in Sachen Problemlösung so gut wie nichts. Er müsste sich aber zum Dilemma erklären und Lösungsansätze aufzeigen. Doch außer der Verhängung von Strafen kommt da nichts.
Aber macht man es sich da nicht zu einfach? Treiben Ultras Vereine wie den 1. FC Köln nicht vor sich her und führen ihn regelrecht vor?
Es werden gerade Machtspiele ausgetragen, und das Verhalten der Ultras gehört sicherlich zu diesem Machtspiel dazu. Ich finde viele Aktionen auch nicht gut, einige sind sogar gefährlich. Doch das ursprüngliche Problem ist hausgemacht. Man muss wieder zu Kompromissen gelangen, die einerseits in den Rechtsrahmen passen und die andererseits den Fanszenen auch bestimmte Freiräume zugestehen. Ich weiß, es gibt natürlich auch sehr viele Fans, die mit den Aktionen der Ultras ein Problem haben, sie für gefährlich halten und überhaupt der Meinung sind, dass die Ultras zu viel Macht haben. Deshalb müssen auch die Ultras die Meinung der „normalen“ Fans hören und sie akzeptieren. Alle müssen aufeinander zugehen. Der DFB und sein Präsident täten gut daran, all diese Stimmen zu hören. Es liegt zu viel im Argen und kann so nicht weitergehen. Doch vom DFB-Präsidium hört man seit der WM in Katar fast nichts. Und wenn, dann kommt oft wenig Gescheites. Der DFB hat eine schwache Führung, die überfordert wirkt und die Konfliktherde nicht beackert. Das Paradoxe ist: Man erwartet das schon gar nicht mehr von ihr.
Der 1. FC Köln beispielsweise scheint allerdings keinen wirklichen Zugriff mehr auf die aktive Fanszene zu haben. Wie will man da zu Lösungen gelangen?
Diese Abkopplung gehört auch zum Selbstverständnis der aktiven Fanszene. Doch ich warne davor, dass wir die Fans jetzt komplett gleichschalten wollen. Das ist in den vergangenen Jahren bei der deutschen Nationalmannschaft mit dem Fanclub Nationalmannschaft passiert. Dort liegt die Fankultur komplett am Boden. Ein Zustand, der sich erst einmal nicht mehr reparieren lässt. Auch da gilt: Vereine wie der FC müssen mit der aktiven Fanszenen wieder mehr in den Dialog kommen.
Und was ist mit dem Vorwurf an die Ultras, dass sie ihre eigenen Interessen über die des Vereins stellen?
Es gibt Meinungsvielfalt und geht viel um Deutungshoheit. Bei den Ultras ist es schon so, dass sie sich als die wichtigste Szene und den Taktgeber der Kurve betrachten. Sie schaffen es am meisten, sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Das gilt für die vielen anderen Fans, die die Mehrheit repräsentieren, weniger. Aber die Ultra-Bewegung hat es in den vergangenen Jahren durchaus geschafft, einige Anliegen und Wertedebatten in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Das hat man zuletzt vor allem während der Corona-Pandemie und den Geisterspielen gesehen, in der die Abneigung zum Fußball-Business immer deutlicher wurde.
Auch die Konflikte zwischen der Polizei und der aktiven Fanszene nehmen immer mehr zu. In Köln wurde der FC jüngst mit Kritik der Polizeigewerkschaft konfrontiert.
Auch da gießen beide Seiten immer mehr Öl ins Feuer. Keiner ist offenbar bereit, den Anfang zu machen und auch verbal abzurüsten. Vor diesem Hintergrund war es von der Polizeigewerkschaft unklug, mit öffentlichen Aussagen den Konflikt weiter anzuheizen. Aber auch die Fanszene ist gefragt, sie muss es auch intrinsisch schaffen, dass Gewalt in der Kurve zum einen erst einmal gesehen und zum anderen dann bekämpft und sanktioniert wird. Das wäre ein Zeichen einer guten Fankultur. Leider gehen weder Polizei noch Ultras aus taktischen Gründen aufeinander zu. Keiner will einen vermeintlichen Macht- und Gesichtsverlust erleiden.
Am kommenden Spieltag könnte der Protest in der Kurve noch einmal stärker werden. Er ist der erste nach dem hauchdünnen Votum zum DFL-Investoreneinstieg, den die aktive Fanszene bundesweit bekämpft hat. Jetzt gibt es zudem Ungereimtheiten rund um die Stimme von Hannovers Geschäftsführer Martin Kind. Mit welchen Reaktionen rechnen Sie?
Mit massiven Protesten gegen die DFL. Bestimmte Akteure wie Martin Kind werden zudem ganz sicher aufs Korn genommen. Ich glaube, dass nicht nur die Ultras, sondern auch viele normale Fans vor allem den Prozess vor der nunmehr zweiten Abstimmung innerhalb kürzester Zeit als abstoßend und unsäglich empfunden haben. Da ist weiteres Porzellan zerschlagen worden, das wird noch nachwirken.
ZUR PERSON
Fanforscher Prof. Dr. Harald Lange, geboren am 14. Juli 1968, ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg und leitet den Projektzusammenhang „Fan- und Fußballforschung“. Der 55-Jährige ist Gründer des Instituts für Fankultur und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Lange hat über 250 wissenschaftliche Arbeiten publiziert, darunter zahlreiche über die Fankultur.