Der Weg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft aus der WM in Katar war gepflastert mit guten Absichten. Präsident Bernd Neuendorf wird eine schonungslose Analyse anstoßen müssen.
Desaster der DFB-ElfMit besten Absichten in den Untergang
Es lag nahe, dem Reflex zu folgen und angesichts des erneuten Scheiterns der deutschen Elf in einer WM-Vorrunde von einem neuen Tiefpunkt zu reden. Doch war eine der bitteren Erkenntnisse, dass wenig neu war am Desaster: Schon 2018 war Deutschland historisch früh aus der WM gestürzt, damals fiel der Sturz nur tiefer aus, weil man als Titelverteidiger nach Russland gereist war. Nach den Resultaten in der Nations League und der üblen EM 2021 bedeutete der Crash in Katar somit eher eine Seitwärtsbewegung auf traurigem Niveau.
Eine besondere Note gab dem Aus, dass die DFB-Auswahl mit einem Sieg nach Hause fuhr. Und bei ihrem Abschied nicht mit dem stillen Respekt bedacht wurde, der einem gestürzten Giganten gebührte. Sondern ausgelacht wurde von dem, was in Deutschland als katarische Öffentlichkeit ankommt. Die Verballhornung der deutschen „Mund zu“-Geste sowie der Umstand, gleichzeitig als Sieger und als Verlierer vom Platz zu gehen, offenbarte die tragische Lage.
Hatten die Deutschen eine Pflicht, auf Kosten der Konzentration zu nerven?
Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten, besagt ein Sprichwort. Und tatsächlich hatte der deutsche Fußball zwar lauter gute Absichten im Gepäck für die Reise ins Emirat. Gleichzeitig aber vergessen, seine zuvor sprichwörtliche Siegeskultur mitzunehmen.
So lag der „Mund zu“-Geste vor dem Spiel gegen Japan die gute Absicht zugrunde, nicht zur Tagesordnung übergehen zu wollen in einem Land, das die WM unter fragwürdigen Bedingungen erhalten und in Fragen der Menschenrechte nach wie vor Antworten schuldig bleibt. Noch Sekunden vor dem Anpfiff des Gruppenauftakts versuchte der deutsche Fußball, mittels seiner Nationalelf moralisch zu punkten. Aus edlen Motiven – denn ist es nicht die Pflicht, zu nerven? Hätte der deutsche Fußball zu einem Pragmatismus finden müssen, um ausreichend fokussiert zu sein gegen Japan? Eine schwierige Frage.
Joshua Kimmich, der so schwer erschütterte Mittelfeldstar des FC Bayern, sagte nach dem Aus: „Prinzipiell ist es wichtig, dass wir unsere Stimme nutzen. Aber in allererster Linie sind wir Fußballer und sollten und müssen uns aufs Sportliche konzentrieren.“ Den totalen Fokus hatten die DFB-Spieler nicht. Die politische Botschaft war damit gut gemeint, trug aber offenbar dazu bei, dass sportlicher Erfolg nicht möglich war. Zum moralischen Sieger wurde Deutschland ebenfalls nicht. Keine gute Bilanz also.
Es war nicht das einzige tragische Moment an dieser deutschen WM-Reise. Sogar der Entschluss, im Gruppenfinale gegen Costa Rica das 1:2 innerhalb von drei Minuten auszugleichen, hatte ein tragisches Moment, sorgten die Deutschen doch letztlich dafür, dass Spanien im Parallelspiel gar nicht mitbekam, für drei Minuten aus dem Turnier zu sein. Er hätte „einen Infarkt bekommen“, hätte er davon etwas mitbekommen, berichtete Spaniens Trainer Luis Enrique später. Hätte Costa Ricas Führung ein paar Minuten länger Bestand gehabt – vielleicht hätten die Spanier ihre autonome Reserve angezapft – und Japan geschlagen.
Eine riesige Ansammlung bester Absichten fand sich auch in Flicks Personalentscheidungen. Der Bundestrainer betrieb Denkmalpflege, indem er an Thomas Müller festhielt, dem seit 2014 kein Turniertor mehr gelungen ist. Auch aus seinem vermeintlich überragenden Mittelfeld wollte er keinem Spieler den Startelfplatz verwehren – was neben taktischen Überlegungen ein Grund dafür war, dass Joshua Kimmich gegen Costa Rica als Rechtsverteidiger begann, damit im Mittelfeld Platz blieb für Leon Goretzka und İlkay Gündoğan. Zur Pause korrigierte Flick seinen Fehler. Deutschland hatte bei der WM 2022 damit mehr Rechtsverteidiger als Spiele.
Selbst Matthias Ginter kam noch zum Einsatz, um nicht als der DFB-Spieler in die Geschichte einzugehen, der von 13 möglichen WM-Partien seiner Karriere nicht eine Minute gespielt hat. Damit machte Flick zwar nichts mehr kaputt. Doch dass er sogar im Angesicht des Untergangs noch den Gedanken für die Gefühlslage des Freiburger Innenverteidigers hatte, bestätigt, dass Flick mehr gute Absichten hatte als bedingungslosen Siegeswillen.
Die deutsche WM-Kampagne 2022 hat damit auch den Beweis erbracht, dass es einer Instanz bedarf, die erkennt, wenn eine Gruppe sich im Versuch überfordert, alles richtigzumachen und moralisch wie sportlich besser zu sein als der Rest der Welt. Weil es keinen Sportdirektor mehr gibt, der dem mittlerweile seit Jahren erfolglos wirkenden Oliver Bierhoff übergeordnet ist, wird sich an der Hierarchie etwas ändern müssen.
Matthias Sammer, bis vor zehn Jahren bereits in dieser Rolle, wäre angesichts seiner Kraft, seines Fleißes und seines Netzwerks ein natürlicher Kandidat für den Job. Die Leerstelle jedenfalls hat der 55-Jährige nach dem Aus bereits benannt: „Ein Sportsystem ohne übergeordneten sportlichen Leiter – das ist das Bild des Deutschen Fußball-Bundes“, sagte Sammer bei Magenta TV: „Den Fehler, diese Position abzuschaffen – auf die Idee musst du erst mal kommen.“
Bernd Neuendorf kündigte bereits an, zeitnah in die Aufarbeitung gehen zu wollen. Der neue DFB-Präsident begann seine Sätze zuletzt mit „ich habe die Erwartung“, was schonmal nicht schlecht ist. Nun wird Neuendorf (61) seine Erwartungen klar formulieren und dafür sorgen müssen, dass sie nicht zum Baumaterial für den Weg in die nächste Hölle werden. In anderthalb Jahren steigt die Europameisterschaft im eigenen Land. Mit guten Absichten wird auch da wenig zu gewinnen sein.