Der Weltmeister von 1990 und Teamchef von 2002 vermisste die Konsequenz vor beiden Toren, sieht aber viel Talent in der Nationalmannschaft für die Zukunft.
Kritik einer LegendeRudi Völler vermisst die Gier bei der Nationalmannschaft
Es gibt wenige lebende Menschen, die man mit mehr Recht als Teil der großen deutschen Fußball-Geschichte bezeichnen darf als Rudi Völler. Der frühere Torjäger, geboren 1960 in Hanau, ist zu einem Helden geworden, der bei allem Talent die einstigen Werte der Bundesliga und Nationalmannschaft repräsentiert hat: Fleiß, Unbeugsamkeit, die Weigerung, Spiele zu verlieren. Das Aus der Nationalmannschaft in der WM-Vorrunde von Doha hat Völler, der neben allem einfach auch ein ganz normaler Fußball-Fan ist, persönlich getroffen.
Drei WM-Endspiele hatte Völler als Spieler und Teamchef erreicht. 1990 war Deutschland auch durch seine Tore und einen von ihm gegen Argentinien im Endspiel erwirkten Elfmeter Weltmeister geworden. Die entscheidende Qualität, die Nationalmannschaften seiner Generation prägte, hat Rudi Völler bei der aktuellen vermisst. „Man hatte das Gefühl, dass die letzte Gier fehlt. Der letzte Wille, vorne das Tor erzielen und hinten das Tor verteidigen zu wollen“, sagte der 62-Jährige am Freitag im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger".
„Wir hatten abgesehen von 1990 nicht immer die beste Mannschaft“, erinnert er sich, „aber wir haben dann doch immer wieder einen Weg gefunden, weit zu kommen, weil wir diese Gier hatten. Gerade auch 2002, als ich Teamchef war. Andere waren besser als wir, hatten mehr Talent, aber wir hatten die Gier. Das habe ich bei dieser WM vermisst.“
Der frühere Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen, seit Sommer 2022 Botschafter des Klubs und Mitglied des Gesellschafterausschusses, sieht für den deutschen Fußball allerdings nicht schwarz. „Man kann unsere Situation nicht mit der der Belgier vergleichen“, erklärte der frühere Torjäger von Werder Bremen und AS Rom, „bei den Belgiern hat man wirklich das Gefühl, dass eine goldene Generation zu Ende geht. Wir aber haben Spieler wie Jamal Musiala, Florian Wirtz, Kai Havertz und Leroy Sané, nach denen sich andere Nationen die Finger lecken würden. Dazu Joshua Kimmich, der auch erst 27 ist. Das sind wunderbare Spieler, hier ist Qualität genug vorhanden.“
Völler weiß, wovon er spricht. Als er die deutsche Nationalmannschaft im Jahr 2000 übernahm, war kein Funken Genialität mehr in ihr. Und so ist er zwei Jahre später mit Spielern wie Carsten Ramelow, Thomas Linke, Torsten Frings und Gerald Asamoah Vizeweltmeister geworden.
Abgesehen von seinem Leverkusener Schützling Florian Wirtz, der die WM wegen des Kreuzbandrisses knapp verpasste und sich inzwischen im Teamtraining auf das neue Jahr vorbereitet, hat es dem Ex-Teamchef Jamal Musiala angetan. Bei den Fähigkeiten des Münchners, der sich bei der WM eine Chance nach der anderen selbst kreierte und dann im Abschluss mehrfach am Pfosten und den eigenen Nerven scheiterte, gerät Völler ins Schwärmen. „Es ist ja unglaublich, was den Engländern passiert ist. Diesen Spieler an Deutschland zu verlieren. Man müsste mal herausfinden, wer dafür verantwortlich war und ihm dazu ein paar Fragen stellen.“
Plädoyer für Kai Havertz als Zehner
Der frühere Teamchef kritisiert allerdings, dass zuletzt nicht alle der hochtalentierten Spieler auf den für sie besten Positionen gespielt haben. Dabei liegt ihm vor allem das Beispiel Kai Havertz am Herzen. Wenige Minuten nach dem WM-Aus am Donnerstag hat Rudi Völler dem Spieler, den er als Zehnjährigen mit seiner Familie vom Wechsel zu Bayer 04 überzeugte, eine Nachricht geschrieben.
Der Inhalt ist privat, aber jeder kennt Völlers Meinung zu Havertz: Ein begnadeter Spieler, der im offensiven Mittelfeld spielen sollte. 2020 war Havertz nach einem Jahrzehnt Leverkusen für eine Ablösesumme, die sich inzwischen auf fast 100 Millionen Euro erhöht hat, zum FC Chelsea gewechselt. Er hat seitdem viel gespielt, im Champions-League-Finale unter Trainer Thomas Tuchel das Siegtor gegen Manchester City erzielt. Aber meistens durfte er nicht dort auflaufen, wo er am allerbesten ist: Im offensiven Mittelfeld, mit einem Mittelstürmer vor sich.
Auch in der laufenden Saison hat Havertz im Klub mehr als die Hälfte der Partien auf anderen Positionen absolviert. Für Rudi Völler ist Kai Havertz das Opfer seiner eigenen Vielseitigkeit geworden. „Kai ist ein offensiver Mittelfeldspieler für die Zehnerposition. Aber weil er ein so begnadeter Fußballer ist, kann er auch andere Positionen wie Mittelstürmer spielen, was er in den vergangenen Jahren permanent musste. Das hatte er ja schon bei uns in Leverkusen gemacht. Ich sehe ihn als ganz klaren Zehner, da ist er herausragend“, sagte Völler.
Die beiden Tore des in der 66. Minute eingewechselten Ex-Leverkusener beim letztlich wertlosen 4:2-Sieg über Costa Rica waren eine bittere Pointe, von der am Ende nur die Spanier profitierten.