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Philipp Lahm im Interview„Wünsche mir, dass man sich trotzdem die WM anschaut“

Lesezeit 11 Minuten
Philipp Lahm jubelt mit dem WM-Pokal zwischen seinen Teamkollegen Lukas Podolski und Thomas Müller

Philipp Lahm (M) jubelt mit dem WM-Pokal zwischen seinen Teamkollegen Lukas Podolski (l) und Thomas Müller (r)

Als Kapitän wurde er 2014 Weltmeister in Brasilien. Im Interview spricht Philipp Lahm über das anstehende Turnier in der Wüste, die Kritik an Katar und die sportlichen Aussichten für das DFB-Team.

Philipp Lahm, freuen Sie sich auf das Turnier?

Philipp Lahm: Ja, natürlich als Sportler, als Fan. Dass die WM niemals nach Katar hätte vergeben werden dürfen, da sind wir uns alle einig. Aber ab dem Zeitpunkt, wo der Ball rollt, will man mitfiebern mit Deutschland, Fan der Nationalmannschaft sein. Eine WM ist ein absolutes Highlight. Den Vergleich der besten Nationen der Welt zu verfolgen, ist immer hochinteressant. Fußball dient auch zum Abschalten, seine Rituale zu verfolgen. Darauf freue ich mich sogar sehr.

Wie werden Sie die WM denn verfolgen?

Ich habe ja bereits gesagt, dass ich nicht hinfahre, weil ich keine Aufgabe habe, da ich kein Delegationsmitglied des DFB bin. 2007 bin ich vor der WM 2010 sogar als Spieler nach Südafrika gereist, weil es mich interessiert hat – die Kultur, die Menschen. Ich bin grundsätzlich dafür, Fußball als gemeinsames Event zu sehen, mit Freunden, mit der Familie zu schauen. Mein Sohn ist Riesenfan, kennt jeden Spieler. Ich selbst habe 1990 bei meinem Opa vorm TV gesessen und erstmals den Traum gehabt, auch einmal für Deutschland zu spielen. Im Nachgang habe ich mir das Turnier noch Hunderte Male angeschaut. (lacht)

Auf was sind Sie diesmal am meisten gespannt – sportlich und politisch?

Natürlich ist es anders als sonst. Aber das macht es auch spannend, zum Beispiel, wie das Turnier in Deutschland verfolgt werden wird. Sportlich ist spannend zu sehen ob und welche Entwicklungen es gibt, mit welcher Ausrichtung und Idee die DFB-Elf in den Wettbewerb geht und ob kleinere Nationen aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit größere Chancen auf eine Überraschung haben. Politisch bin ich gespannt, wie sich Katar als Gastgeber präsentiert. Wohlwissend, dass alle sehr genau hinschauen werden.

Inwieweit schauen Sie als Turnierdirektor für die Europameisterschaft 2024 auch mit anderen Augen auf die WM? Hätten Sie sich vor Ort nichts abgucken können?

Nein, das hat man heute alles bereits im Vorfeld gemacht. Welche Beziehungen hat Deutschland zu Katar? Was sind die Beweggründe, dieses Turnier auszurichten? Wie groß ist das Land? Wie ist die Bevölkerungsstruktur? Wie lief die Organisation und so weiter? Da die Umstände aber so waren, wie bekannt, und alles anders ist als 2024, ist praktisch nichts dabei, was wir uns abschauen könnten oder wollen. Auch daher gibt es keinen Grund für mich als Turnierdirektor, dorthin zu reisen. Über das Thema Nachhaltigkeit zum Beispiel brauche ich nicht zu sprechen, wenn ich acht Stadien in einer Stadt errichte, in einem Land, das keinerlei Fußball- oder Fankultur hat. Dazu die nach wie vor problematische Menschenrechtssituation. Was wir mit Blick auf 2024 zu tun haben, hat mit alldem nichts zu tun. Da geht es mehr um den Austausch mit den Austragungsstädten, um das Thema Nachhaltigkeit. Darum, was mit dem übrig gebliebenen Essen passiert. Was ist mit dem Kombiticket? Das alles gibt‘s nicht in Katar.

Wie oft wurden Sie schon von Freunden gefragt, ob man hinfliegen soll, und was haben Sie geantwortet?

Am Ende muss das jeder für sich entscheiden, Hansi Flick hat es ja schon mal richtig formuliert: Es ist keine WM für jeden und alleine das ist ein Grund, sie nicht dorthin zu geben.

Was wünschen Sie sich nach all den Negativschlagzeilen für die Endrunde?

Dass man sich trotzdem das Turnier anschaut, dass Menschen auch in Deutschland wieder zusammenkommen, um gemeinsam Fußball zu schauen. Das darf man nämlich durchaus – auch wenn die WM in Katar stattfindet.

Kapitän Manuel Neuer wird mit der „One-Love-Binde“ auflaufen statt mit der Regenbogenbinde, der DFB kassierte dafür viel Kritik. Zu Recht?

Man kann es doch nie allen recht machen. Ich finde es gut, dass ein Zeichen gesetzt wird. Es wurde was überlegt – von zehn großen Nationen, die ihr eigenes Symbol geschaffen haben, auch zur Antidiskriminierung. Daran muss man sich nun aber auch messen lassen, glaubwürdig bleiben, danach leben. Es kann nur ein Teil des Ganzen sein, aber die grundsätzliche Idee ist gut.

Zu Ihrer Zeit besaß Deutschland den Mythos einer Turniermannschaft, der Unbesiegbarkeit. Das Standing hat man verloren, oder nicht?

Das glaube ich nicht. Jeder Japaner, Spanier oder Costa Ricaner weiß, wer bei uns auf dem Platz steht. Was diese Spieler für eine Qualität haben, was sie schon alles gewonnen haben. Aber wenn man zweimal in Folge früh ausscheidet, hat man eben auch gesehen, dass man es als „kleinere“ Nation schaffen kann – wie Mexiko, wie Südkorea. Das gab es über Jahre, vielleicht Jahrzehnte nicht. Da muss man erst wieder hinkommen.

Wofür steht die deutsche Mannschaft aus Ihrer Sicht heute?

Normalerweise entwickelt sich das im Vorfeld, man hat eine Idee. Wenn ich an 2010 denke, war diese eher defensiv und hat sich bis 2014 zu mehr Ballbesitz hin entwickelt. Das hat man aktuell nicht, aber das ist ein Prozess. Und die WM kann auch so etwas wie der Startschuss sein. Ich finde es wichtig, dass wieder eine Identität stattfindet. Aber auch das passiert häufig erst während eines Turniers. Wir haben nach wie vor sehr viele talentierte Spieler, sind eine Fußballnation, die Liga ist stark, fast alle spielen bei Topklubs. Die letzten Auftritte bei großen Turnieren waren enttäuschend – umso mehr gilt es nun, eine neue Geschichte zu schreiben, das Vertrauen zurückzugewinnen. Die Diskussion über „Die Mannschaft“ ist ja auch deshalb entstanden, weil nicht mehr drin war, was draufstand.

Sie sind nach dem WM-Titel 2014 zurückgetreten – zum bestmöglichen Zeitpunkt. Ahnten Sie damals schon ein wenig, was kommt und dass es besser nicht mehr werden kann?

So denkt man als Sportler nicht. Ich habe schon im November 2013 gesagt, dass es mein letztes Turnier sein wird. Ich hatte damals ein Verantwortungsbewusstsein – gegenüber mir selbst, gegenüber dem FC Bayern, gegenüber meiner Familie. Es gab viele Länderspiele und über die Jahre haben sich die Prioritäten etwas verschoben. Früher war es überhaupt keine Frage, ob man mal pausiert. Und als Kapitän war es mein Anspruch, immer präsent zu sein und nicht bei vier von fünf Spielen zu Hause zu bleiben. Daher war es nur konsequent zu sagen: Dann mache ich es gar nicht mehr. Mir war immer klar, dass die Zeit in der Nationalelf begrenzt sein wird.

Ich glaube, dass bei so einem Turnier Team über Qualität steht
Philipp Lahm über den Teamgedanken bei einer WM

Sie waren Kapitän, haben sechs Turniere gespielt, standen dabei fünfmal mindestens im Halbfinale. Worauf kommt es bei einer Endrunde an?

Ich glaube schon, dass bei so einem Turnier Team über Qualität steht. Wenn Team und Talent zusammenkommen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass man erfolgreich ist, natürlich noch mal um ein Vielfaches. Das zeigt sich daran, dass es am Ende trotzdem nur wenige Nationen gibt, die Weltmeister geworden sind, und andere Teams über sich hinausgewachsen sind wie Kroatien oder Island zuletzt. Und umgekehrt, dass Länder wie Frankreich, Brasilien, Holland oder zuletzt auch Deutschland trotz überragender Qualität gescheitert sind, weil es an anderen Dingen fehlte. Man ist fünf Wochen zusammen, wenn man erfolgreich ist. Da muss es einen Spirit geben, das betrifft nicht nur die Spieler, sondern auch die Betreuer und Trainer. Man muss nicht mit jedem befreundet sein, aber man muss einen gemeinsamen Weg gehen.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff betont immer, wie wichtig früher die Vorbereitung war und dass diese jetzt in nur vier Tagen praktisch wegfällt. Was ändert sich dadurch?

Es könnte sein, dass die großen Nationen dadurch nicht so gefestigt sind. Andererseits kommen die Stars von Topklubs und haben jetzt vielleicht 20 statt 60 Spiele in den Beinen. Früher brauchten sie erst mal Regeneration, Erholung. Jetzt geht die Saison einfach weiter. Uns hat es immer ausgezeichnet, diese zwei Wochen zu nutzen, um als Team zusammenzuwachsen und ein Rollenverständnis zu entwickeln.

Wie sehr braucht es dafür eine Hierarchie, einen starken Kapitän?

Ich habe noch beide Epochen erlebt. Die frühere Generation hatte einen etwas anderen Führungsstil. Wir hatten auch eine Hierarchie, einen Kern, mit dem man sich immer austauschen konnte. Aber ob flache Hierarchie oder nicht – es muss zeitgemäß sein. Wichtig ist, dass jeder seine Rolle kennt und diese vor allem auch akzeptiert. Spiele ich vielleicht wenig oder gar nicht? Dann muss ich trotzdem für den täglichen Trainingsbetrieb, fürs Klima wichtig sein. Nur dann kann man als Team erfolgreich sein. Und natürlich ist es auch Aufgabe des Kapitäns, dafür zu sorgen, dass dem so ist. Er sollte immer präsent sein, die Themen repräsentieren und Verantwortung übernehmen. Das müssen alle anderen aber auch. Es gibt immer Haupt- und Nebendarsteller, aber es kann auch mal sein, dass der Nebendarsteller den Oscar gewinnt.

Welche Rolle spielt Hansi Flick und welche Rolle seine Vorgeschichte bei Bayern und beim DFB?

Er ist der richtige für den Weg, den man gehen will und auch schon eingeschlagen hat. Ich traue ihm viel zu, er hat eine gute Ansprache, einen guten Umgang mit den Jungs. Aber am Ende wird auch er am Erfolg gemessen, und das sind nun mal die großen Turniere. Und dafür ist wie gesagt wichtig, einen Teamgeist zu kreieren, eine Idee zu entwickeln.

Und eine Achse zu finden wie 2014?

Absolut! Eine stabile Achse braucht man, das zeigen alle Erfolge großer Mannschaften. Diese Achse hatten wir 2014 definitiv. Zudem hatten wir gemeinsam schon vieles erlebt.

Was ist aus Ihrer Sicht bei den letzten beiden Endrunden 2018 und 2021 schiefgelaufen?

An der Qualität hat es sicher nicht gelegen. Aber die erwähnte Achse gab es eben eher nicht, es gab viele Nebengeräusche und Ungereimtheiten. Es gab verdiente ältere Spieler und eine neue Generation, die nachkam. Es passte an einigen Stellen nicht. Und dann kannst du auch in einer Gruppe mit Schweden, Mexiko und Südkorea scheitern.

Trotz des bescheidenen Abschneidens zuletzt ist das Ziel mindestens das Halbfinale, sogar vom Titel wird gesprochen. Ist das wirklich realistisch? Aktuell ist Deutschland Weltranglistenelfter.

Zu den ersten drei, vier Nationen zählen wir momentan sicher nicht – einfach aufgrund der vergangenen beiden Endrunden. Ziel muss es sein, unter die letzten vier zu kommen. Aber auch als Elfter kannst du Weltmeister werden, weil es diese Übermannschaft, wie es bei uns damals Spanien war, aktuell nicht gibt. Zumindest sehe ich sie nicht.

Auch nicht Brasilien?

Natürlich sind sie stark. Aber man weiß zum Beispiel nicht, wie es ist, wenn sie auf gute Europäer treffen – egal, wie gut sie in Südamerika performen. Ich sehe Brasilien und Argentinien trotzdem vorne, Frankreich hat einen sensationellen Kader, Spanien eine junge, sehr talentierte Mannschaft. Dann gibt es natürlich noch uns, die Holländer, Belgien und England.

Wer wird Weltmeister?

Als wüsste ich das. (lacht) Es hat sich tatsächlich keiner so richtig hervorgetan. Keiner, den man zwingend aus dem Weg räumen muss. Aus dem Bauch heraus hätte ich Argentinien gesagt. Wenn man immer nah dran ist, hat man es irgendwann auch mal verdient – das habe ich selbst erlebt. Zumindest, wenn man nach Niederlagen wächst, wie wir mit dem DFB und auch mit Bayern.

Wie viel hängt vom ersten Spiel gegen Japan ab?

2014 war eines der wichtigsten Spiele das Auftaktspiel gegen Portugal. Man wusste nicht ganz genau, wo man steht, wo die anderen stehen, hatte gleich einen dicken Brocken. Und dann haben wir dermaßen ein Statement gesetzt, dass alle wussten: Mit Deutschland müssen wir wieder rechnen. Außerdem hat uns das so ein Selbstvertrauen eingeflößt, das enorm wichtig war für den weiteren Turnierverlauf. Ab da waren wir absolut überzeugt, dass es weit gehen wird; und die Fans in Brasilien und die Nation zu Hause auch. Sollte Deutschland gegen Japan nicht gewinnen oder gar verlieren, stünde man gegen Spanien natürlich unfassbar unter Druck.

Hat man als Spieler die weiteren Runden im Hinterkopf, wie es weitergehen könnte, oder ist das nur eine Spielerei unter Fans und Journalisten?

Nein, das wäre gelogen. Natürlich schaut man ab dem Tag der Auslosung aufs Tableau und guckt, auf wen man wann treffen kann, ganz klar. Aber das wird dann immer weniger und wenn man unmittelbar vor dem ersten Spiel steht, darf es überhaupt keine Rolle mehr spielen. Dann zählt nur der nächste Gegner, dann musst du da sein.

Deutschland scheitert im Halbfinale und holt 2024 beim Sommermärchen 2.0 den Titel: Würden Sie unterschreiben?

Wenn ich mir was wünschen dürfte, wäre es natürlich, dass Deutschland 2024 Europameister im eigenen Land wird, nach einem tollen Turnier, das alle begeistert hat. Aber natürlich gönne ich den Jungs auch schon in Katar den maximalen Erfolg, auch wenn es schwer wird. Am wichtigsten wäre es, dass es die Mannschaft schafft, dass man sich wieder vollumfänglich mit ihr identifiziert, dass man sie gemeinsam feiert und sie unterstützt – auch wenn es mal nicht so läuft. (rnd)