AboAbonnieren

Kommentar

Streit über WM in Katar
Muss man diese Spiele boykottieren?

Lesezeit 6 Minuten
Optik Pro und Contra WM Katar

Der Fußball leidet.

Am Sonntag beginnt die wohl umstrittenste Fußball-WM der Geschichte. Seit der Vergabe der WM 2010 sind im Wüstenstaat Katar 15.000 Arbeitsmigranten gestorben, Homosexualität ist eine Straftat. Muss man diese Spiele boykottieren? Zwei Autoren, zwei Meinungen.

Dietrich Schulze-Marmeling ist Autor zahlreicher Fußball-Bücher. Er sagt, zum Fußballgucken bleibe in den kommenden Wochen gar keine Zeit. Schließlich muss er protestieren.

Vor zwei Wochen war ich als Referent bei einer Katar-Veranstaltung des Oberligisten Arminia Hannover. In einem sympathisch ranzig wirkenden Vereinsheim, wo es noch nach Fußball riecht. Gleich nebenan die 104 Jahre alte „Antikarena“ der Arminen, das Rudolf-Kalweit-Stadion am Bischofsholer Damm. Der Kontrast zu den glitzernden Wolkenkratzern und klimatisierten Stadien in Doha konnte nicht größer sein. Nach der Diskussion gab es Currywurst mit Pommes.

Beim Gespräch musste ich feststellen, dass ich nicht die Gruppengegner der DFB-Elf in Katar kannte. Ich, der seit der WM 1998 über jede WM geschrieben hatte, der sich auf jede WM gefreut hatte, die teilnehmenden Teams und die taktischen Entwicklungen stets mit großer Lust analysiert hatte. Bei der WM 2022 werde ich kein Spiel sehen. Warum?

Erstens: Mensch muss sich auch mal gerade machen und ein Zeichen setzen. Gründe, diese WM zu boykottieren, gibt es viele. Angefangen mit der zutiefst korrupten Vergabe des Turniers durch ein zutiefst korruptes Fifa-Exekutivkomitee, bei genauer Betrachtung eine kriminelle Vereinigung, der eine 387 Millionen US-Dollar teure geheimdienstliche Operation gegen dessen Kritiker folgte; dann die Situation der rechtlosen Arbeitsmigranten, von denen viele für das Turnier ihr Leben ließen.

Unterdrückung von Frauen sowie der LGBTQ+-Community

Ja, das Kafala-System wurde offiziell abgeschafft, was wir nicht der Fifa zu verdanken haben, sondern der Kritik von Fans, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. De facto existiert das System aber immer noch in vielen Bereichen, und das Gros der WM-Infrastruktur wurde noch unter diesem System errichtet. Des Weiteren die gesetzlich verankerte Unterdrückung der LGBTQ+-Community, die Diskriminierung der Frauen und so weiter.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die nun sagen: „Das Kind ist in den Brunnen gefallen, nun lass uns einen Schlussstrich ziehen und nur noch Spaß haben!“ Eine solche Haltung ist auch ein bisschen komisch: Das damalige Exekutivkomitee existiert nicht mehr, viele seiner Mitglieder wurden Fifa-intern gesperrt und/oder strafrechtlich belangt. Und trotzdem wird in Katar gespielt.

Protestieren statt Spiele gucken

Zweitens: Ich habe gar nicht die Zeit, um mir die Spiele anzuschauen, denn während der WM läuft der Protest weiter. Sonntag geht es nach Herne und Wuppertal, Montag nach Bremen, Dienstag in die Kölner Fußballgaststätte „Lotta“, am Mittwoch dann ein Heimspiel im „Fan-Port“ in Münster. Vor dem Fernseher werde ich also nicht sitzen, aber auf den Fußball werde ich deshalb nicht verzichten. Von der Regionalliga abwärts wird ja weiter gespielt. Außerdem gibt es zahlreiche „Alternativ-Turniere“.

#BoycottQatar2022 klang für viele zunächst zu provokativ. Aber die „Provokation“ beendete die Friedhofsruhe rund um das Turnier und störte erfolgreich das Schönreden der Verhältnisse im Austragungsland. Ohne die Boykott-Forderung, gemeint war ein Fan-Boykott, hätte sich die Diskussion über die WM in landeskundlichen Betrachtungen und einigen klugen Aufsätzen erschöpft. Die zahlreichen Veranstaltungen hätte es kaum gegeben, die vielen kreativen und fantasievollen Aktionen der kritischen Fan-Szene wohl auch nicht. Der bislang größte Protest von Fans pro Menschenrechte und gegen die Politik der Fifa, von denen die Initiatoren der Kampagne in den letzten Wochen regelrecht überrollt wurden, hat gezeigt: Fußball ist mehr als Fifa. Weshalb mir die WM in Katar die Leidenschaft für das Spiel nicht rauben wird.


Stephan Klemm, 55, verstärkt als Redakteur während der WM die KStA-Sportredaktion, die in ihrer WM-Strecke auch auf die Missstände in Katar aufmerksam machen wird. Er will sich die Freude am Fußball nicht kaputt machen lassen.

Natürlich findet diese Fußball-WM am völlig falschen Ort statt. Doch dass Katar dieses Fest nun unglaublicherweise ausrichten darf, hat vor allem mit dem Vergabeverfahren der Fifa zu tun, einem Schurken in diesem Spiel.

Die erste Sünde dieses Vereins war, dass er überhaupt die Bewerbung eines Landes zugelassen hat, das Menschenrechte missachtet, Frauen erniedrigend behandelt und Homosexualität unter Strafe stellt. Die zweite: Die Fifa hätte die Bewerbung Katars nur dann akzeptieren dürfen, wenn sie wenigstens auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen beim Bau der Stadien und entsprechend adäquater Bezahlung bestanden hätte. Das alles ist nicht geschehen.

Die dritte: Jedem Wahlmann des Exekutivkomitees musste klar sein, dass diese WM nicht zur Jahresmitte ausgetragen werden kann wie sonst üblich – und dass damit der gesamte Terminkalender geändert werden müsste.

Fernsehboykott ist der falsche Weg

Jetzt sitzen wir in dem Schlamassel, dass das wichtigste Fußballereignis der Welt niemanden so richtig mitreißt. Und dennoch: Ein Fernseh-Boykott ist meiner Meinung nach der falsche Weg. Denn: Was können die Fußballer dafür, dass senile, geldgierige Funktionäre sie für eine WM in die Wüste schicken? Und warum haben wir 2018 alles über uns ergehen lassen, als die WM nach Putins Annexion der Krim in seinem autoritär regierten Russland stattfand?

Katar richtet ja nicht nur die Fußball-WM aus, sondern ist längst schon Großaktionär vieler deutscher Konzerne, unter anderem von VW, ein Unternehmen, das den DFB sponsert. Doch wer zieht daraus den Schluss, künftig Spiele der Nationalelf zu ignorieren? Oder nicht mehr VW zu fahren? Wer boykottiert seine Heizung, wenn sie künftig mit Gas aus Katar gespeist wird?

Katar alimentiert auch Paris Saint-Germain und den FC Bayern

Was also bringt es, die Spiele dieser WM nicht zu schauen? Erhalten dadurch die Erbauer der Stadien nachträglich mehr Geld, werden Witwen der gestorbenen Arbeiter nun endlich entschädigt?

Und es geht ja noch viel weiter. Katar betreibt sein Sportwashsing-Prinzip, also die Reinwaschung von seinen Sünden mithilfe des Sports, derart ganzheitlich perfide, dass es mit dem Sportableger seines Staatsfonds QIA auch noch Paris Saint-Germain mit Milliarden unterstützt. Via Qatar Airways alimentiert das Land zudem den FC Bayern nobel. Beide Teams treffen demnächst im Achtelfinale der Champions League aufeinander. Ich bin sicher, dass es vor, während und nach der Partie vor allem um eins gehen wird: den Fußball.

Im Übrigen haben andere ähnlich mittelalterlich wie Katar konstituierte Staaten der arabischen Halbinsel das Sportwashing auch in der englischen Premier League längst etabliert. Auf die Idee, Manchester City im TV zu boykottieren, kommt gleichwohl niemand. Wer sich die WM nicht im Fernsehen ansieht, bekommt auch nicht mit, wie sehr ARD und ZDF rund um die Spiele auf katarische Missstände in Form von Dokus hinweisen werden. Wie sehr sie das Regime mit ihren Entdeckungen und Enthüllungen nerven werden.

Stephan Klemm

Stephan Klemm

Stephan Klemm, Jahrgang 1967, ist Historiker und Germanist, seit 2000 Redakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und ein Experte für fußballhistorische Themen, Fußball an sich, Radsport, Wintersport und Do...

mehr

Jetzt ist die Entrüstung über die WM im unmöglichen Ort Katar völlig zurecht groß. Doch regen wir uns auch nach dem Finale über dieses Land auf? Oder schalten wir dann ganz ab? Dabei wird Katars Einfluss künftig eher noch zunehmen. Nicht nur im Sport. Vielleicht sollten wir gerade deshalb jetzt und künftig sehr genau hinschauen, was in Katar passiert. Ich bin dabei.