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Olympia in NRW„Das Streben nach der Perfektion beim Bogenschießen fasziniert mich“

Lesezeit 6 Minuten
Johanna Klinger, Bogenschützin im Deutschen Junioren-Kader, trainiert auf dem Schießplatz in Köln-Ehrenfeld.

Johanna Klinger, Bogenschützin im Deutschen Junioren-Kader, trainiert auf dem Schießplatz in Köln-Ehrenfeld.

Johanna Klinger jagt dem perfekten Schuss nach. Dafür trainiert sie, seit sie zwölf ist.

Es ist der Bruchteil einer Sekunde, der für Johanna Klinger einen Wettkampf entscheidet. Die 20-Jährige legt auf dem Schießplatz des „Kölner Klub für Bogensport“ in Ehrenfeld den Pfeil an, zieht die Sehne ihres Bogens langsam zurück. Konzentriert starrt sie auf die Zielscheibe, so weit entfernt, dass man die eingedrungenen Pfeile mit dem bloßen Auge nicht erkennt. Sie lässt los, der Pfeil surrt, etwa eine Sekunde braucht er, um die 70 Meter zu überwinden. „8,3“, sagt ihr Trainer Freddy Siebert, der durch ein Spektiv die Scheibe beobachtet.

Johanna Klinger, Informatik-Studentin, Münchenerin und Junioren-Athletin des deutschen Kaders, wollte eigentlich nie Leistungssportlerin werden. „Ich weiß eigentlich selbst nicht, wie ich da hineingerutscht bin“, sagt sie. Das Kräftemessen mit anderen Sportlern, der Druck eines Wettkampfes reizte sie nie. Bis sie mit dem Bogensport anfing.

„Bogenschützen müssen komplett durchtrainiert sein“

Es war 2016, eine Schulfreundin hatte sie gefragt, ob Klinger sie zum Bogenschießen begleiten möchte. Klinger, damals zwölf Jahre alt, musste an Katniss Everdeen denken, die Heldin aus „Tribute von Panem“, die mit Pfeil und Bogen die Hungerspiele überlebte, und beschloss: Sie kommt mit. Auf dem Schießplatz realisierte sie zwei Dinge. Erstens: Bogenschießen hat nicht viel mit den Stunts in Dystopie- und Fantasie-Filmen zu tun. Zweitens: Sie war gut. Besser als die Kinder neben ihr, viel besser. Es dauerte nicht lange, bis das auch ihr damaliger Trainer bemerkte.

Heute steht Johanna Klinger vier- bis fünfmal die Woche auf dem Trainingsplatz, vor einem Wettkampf öfter, in der Klausurenphase weniger, sie fährt mit dem Nationalkader in Trainingscamps und sie misst sich mit anderen Athleten bei internationalen Wettkämpfen: bei den Junioren-Weltmeisterschaften in Polen und Irland, den Europameisterschaften in England und Rumänien, bei den World University Games in China im vergangenen Jahr.

Johanna Klinger schießt im deutschen Junioren-Kader.

Johanna Klinger beim Training auf dem Schießplatz in Köln-Ehrenfeld.

Zur Vorbereitung gehört nicht immer Pfeil und Bogen. „Ein Bogenschütze ist äußerlich vielleicht kein Kraftpaket wie ein Bodybuilder“, sagt Freddy Siebert, der an der Kölner Trainerakademie studiert und seit einem Jahr hauptamtlich für den Nachwuchs der Bogenschützen zuständig ist. „Aber er muss komplett durchtrainiert sein, ähnlich wie ein Personal Trainer.“ Da Sportler bei Wettkämpfen mitunter neun Stunden auf dem Feld stehen und bis zu 700 Pfeile abschießen, brauchen sie nicht nur Ausdauer, sondern auch Kraft: Bei jedem Zug müssen Bogenschützen einen Widerstand von etwa 20 Kilogramm überwinden. Deshalb steht nicht nur Techniktraining auf dem Plan, sondern auch Übungen für Kraft, Ausdauer und Konzentration.

Der perfekte Schuss

Worin liegt eigentlich der Reiz, an einem Trainingstag nach 699 abgeschossenen Pfeilen den 700. Pfeil an den Bogen zu spannen? Wenn Siebert und Klinger über ihren Sport reden, fällt als Erklärung ein Wort: perfekt. Wie Surfer, die den Ozean nach der perfekten Welle absuchen, jagen sie dem perfekten Schuss nach, ermöglicht durch perfekte Wetterbedingungen, die perfekte Haltung, die perfekte Armbewegung, den perfekten Ablauf. „Gleichzeitig wird der Schuss nichts, wenn man zu verbissen ist – diese Balance reizt mich einfach“, sagt Klinger. „Für Außenstehende wirkt Bogenschießen vielleicht etwas repetitiv, als würden wir immer dasselbe machen. Aber es ist genau dieses Streben nach der Perfektion, das mich so fasziniert.“


Nach diesen Regeln laufen Wettkämpfe im Bogenschießen ab

Die Zielscheibe ist in farbige Ringe aufgeteilt: Ein Schuss in den mittigen gelben Kreis – er hat einen Durchmesser von 12,1 Zentimeter – gibt zehn Punkte, in den äußeren gelben neun. Die roten Kreise zählen sieben und acht Punkte, die blauen fünf und sechs, die schwarzen drei und vier, der weiße Rand gibt einen oder zwei Punkte.

Die Athleten geben zweimal 36 Pfeile aus 70 Metern Entfernung ab und versuchen dabei, eine möglichst hohe Punktzahl zu erzielen. Die besten 32 Athletinnen und Athleten ziehen in die K.o.-Runde ein. Hier entscheiden direkte Duelle: Die Athletinnen spielen drei Gewinnsätze mit jeweils drei Pfeilen. Die Sieger ziehen eine Runde weiter – bis ins Finale.


Seit 1972 ist Bogenschießen – nach einigen Jahrzehnten Pause – wieder olympisch. Was eine Medaille für den Bogensport bewirken kann, erlebte der Verband bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro: Dank der Zeitverschiebung lief Bogenschießen zur besten Sendezeit im Fernsehen. Und so verfolgten Millionen Zuschauer, wie sich die deutsche Bogenschützin Lisa Unruh völlig überraschend bis ins Finale schoss und auf dem Podium die Silbermedaille entgegennahm. Es war die erste olympische Medaille für eine Deutsche im Einzel – das Podest im Bogenschießen wird normalerweise von asiatischen Ländern dominiert, allen voran Südkorea. „Danach gab es einen echten Boom in den Vereinen“, sagt Siebert.

Mehr Förderung für Profis im Bogensport

Diesen Sommer wird Deutschland in Paris von vier Sportlerinnen und Sportlern beim Bogenschießen vertreten. In den letzten Jahren, sagt Siebert, habe sich im Bogensport viel getan. Während 2012 nur zwei Athleten des Nationalteams sich ihrem Sport in Vollzeit widmen konnten, sind es heute alle 12 – meistens dank einer Förderung als Sportsoldaten oder über die Bundespolizei. Offenbar mit Erfolg: 2022 gewann das Frauen-Team die Europameisterschaft, 2023 wurden sie Weltmeisterin im eigenen Land, als Mixed-Team sicherten sie sich den zweiten Platz.

Trainer Freddy Siebert blickt durch ein Spektiv auf die Zielscheibe

Trainer Freddy Siebert blickt durch ein Spektiv auf die Zielscheibe

Am späten Nachmittag beenden Freddy Siebert und Johanna Klinger auf dem Schießplatz in Köln-Ehrenfeld ihr Training, es wird Zeit für den Selbstversuch. Der gefüllte Köcher hängt am Gürtel, Johanna Klinger reicht einen Vereinsbogen an. Die junge Athletin erklärt, in welchem Winkel die Füße stehen sollten, welche Körperhaltung Schützen einnehmen, wie man einen Pfeil korrekt anlegt. Für den ersten Versuch wählen Klinger und Siebert die Zielscheiben für Anfänger aus, acht, neun, Meter entfernt, damit der Pfeil auch wirklich im Strohballen landet und nicht auf dem Gelände verloren geht.

Pfeil anlegen, Sehne zum Kinn, zielen, loslassen. Die Sehne knallt zurück, der Pfeil zischt los, saust hoch über den Strohballen hinweg und bohrt sich dutzende Meter weiter in die Erde. Für Katniss Everdeen wären die Hungerspiele damit beendet gewesen, auf dem Schießplatz in Ehrenfeld ist man gnädiger. Nächster Versuch. Der Pfeil versinkt im oberen Rand des Ballens. Bei Pfeil Nummer sieben klappt es endlich: „Das war eine zehn“, sagt Siebert. Geht doch. Jedenfalls, wenn die Zielscheibe in acht statt 70 Metern Entfernung steht.


Bogenschießen bei Olympia

Schon bei den olympischen Spielen 1900 in Paris traten Athleten im Bogenschießen gegeneinander an, 1904 war es die einzige Sportart, an der auch Frauen teilnehmen durften. Nach 52 Jahren Pause kehrte Bogenschießen bei den Spielen 1972 in München ins olympische Programm zurück. Zugelassen ist nur der sogenannte „Recurve-Bogen“, an dem Zielvorrichtungen und Stabilisatoren angebaut sind.

In Paris treten die Bogenschützen in fünf Varianten an: Herren Einzel, Damen Einzel, Herren Team, Damen Team und Mixed Team. Der erste Wettkampf fand am 25. Juli statt, am 4. August fallen die letzten Medaillenentscheidungen. Für Deutschland treten Katharina Bauer, Michelle Kroppen, Charline Schwarz und Florian Unruh an.