Erst Ernüchterung, jetzt große TräumeDie neue englische Euphorie

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Ein Fan von England jubelt mit einem Banner mit der Aufschrift "We're on our way - Berlin" über den Finaleinzug seiner Mannschaft.

In den ersten EM-Spielen ernüchtert, jetzt in Euphorie: Die englischen Fans waren nach dem Halbfinal-Sieg in Dortmund außer sich. Jetzt träumen sie vom Titel in Berlin.

Die Stimmung rund um die „Three Lions“ hat sich innerhalb von nur wenigen Tagen kolossal verändert. Jetzt soll der erste Titel seit 1966 her.

Der Abpfiff, die große englische Glückseruption, war bereits über eine Stunde vorbei, da waren rund um das Westfalenstadion in Dortmund noch einige Gesänge der Fans von der Insel zu hören. Ollie Watkins, der mit seinem Siegtor in der Nachspielzeit des EM-Halbfinals gegen die Niederlande (2:1) die „Three Lions“ ins Finale geschossen hatte, wurde natürlich ausgiebig gefeiert. Es wurde besungen, dass man nun auf dem Weg nach Berlin sei. Und den vielen, tieftraurigen niederländischen Fans gab man hämisch noch mit, die orangene Party in der Hauptstadt fiele nun eben aus.

All das war nicht mehr ganz so verständlich gewesen, der Alkohol hatte seine Spuren hinterlassen. Gareth Southgate dagegen fand gegen Mitternacht klare, recht nüchterne Worte ohne großes Pathos. „Wir sind noch hier. Wir haben den Leuten einen der besten Abende der letzten 50 Jahre gezeigt. Ich hoffe, sie gönnen sich ein paar Bier“, sagte Southgate an seine Landsleute gerichtet, die sich allerdings bereits während des Tags in Dortmund ohnehin nicht als Kostverächter präsentiert hatten.

Für die großen Worte waren andere zuständig. „Es war eine unglaubliche Leistung. Das bedeutet die Welt für uns. Lasst uns den letzten Schritt gehen. Auf geht's“, sagte Harry Kane voller Stolz mit Blick auf das Finale am Sonntag in Berlin (21 Uhr, ARD) gegen Spanien. Selbst der britische König, nicht für seine emotionalen Ausbrüche bekannt, geriet in Wallung. Charles III. gratulierte, knüpfte aber eine Bitte daran. „Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden“, sagte er einer Mitteilung des Palastes zufolge, dann würde „die Belastung für den kollektiven Puls und Blutdruck der Nation erheblich gemildert“. Der König sagte das sicher in dem Wissen, dass Studien mehrfach belegt hatten, dass seine Untertanen die ungesündesten Europäer sind, die am meisten Schädliches in fester und flüssiger Form konsumieren.

EM 2024: Vor zwei Wochen war in England die Stimmung noch eine ganz andere

Die aber spätestens seit dem Mittwochabend von Dortmund, sofern sie jedenfalls Fußballfans sind (und das ist fast jeder Brite), eine der glücklichsten Nationen sind. Jetzt soll aus ihrer Sicht, nein muss, der erste Titel seit dem WM-Triumph vor 58 Jahren im eigenen Land her. Am Mittwoch hatten die „Three Lions“ auch den frühen Rückstand durch Xavi Simons sehr gut weggesteckt, durch ein Elfmetertor von Harry Kane schnell ausgeglichen und in der Folge ihre beste Turnierhalbzeit geboten. In der zweiten Halbzeit folgte weniger Spektakel, fast alles sprach für eine Verlängerung, bis dann der ausgerechnet für Superstar Kane eingewechselte Watkins von Aston Villa mit seinem famosen Tor doch noch für die große Ekstase sorgte.

Vor rund zwei Wochen war die Stimmungslage noch eine ganz andere gewesen. Dem Coach wurde eine unansehnliche Risikovermeidungs-Taktik vorgeworfen. Der Unmut war auch berechtigt. Mit Stars wie Kane, Jude Bellingham, Phil Foden, Bukayo Saka oder Declan Rice muss man eigentlich besser spielen, als es die Engländer getan hatten. Aber sie waren effizient und mit dem Glück im Bunde. Ohne Bellinghams Geniestreich im Achtelfinale gegen die Slowakei in Minute fünf der Nachspielzeit wäre das Team erneut früh nach Hause gefahren. Und Southgate den Job los gewesen.

„Wenn man etwas für sein Land tut und ein stolzer Engländer ist, möchte man nicht nur Kritik lesen“, sagte Southgate dann doch mit Genugtuung. „Ich bin den Job angetreten, um den englischen Fußball zu verbessern. Jetzt stehen wir zum zweiten Mal im Finale“, sagte der Coach mit Blick darauf, dass sein Team vor drei Jahren das Endspiel erreicht und in London gegen Italien im Elfmeterschießen verloren hatte.

Jetzt kommt es zu einem Endspiel, in dem der Unterschied zwischen den Kontrahenten kaum größer sein könnte. Anders als der pragmatisch orientierte Southgate legt Spaniens Trainer Luis de la Fuente Wert auf das schöne Spiel, mit Könnern wie Fabian, Rodri, Olmo, Williams und Ausnahmetalent Yamal hat er dafür auch die richtigen Spieler. Doch England ist nun voller Euphorie, die Mannschaft hat neues Selbstbewusstsein. Und es erscheint möglich, dass sie die spanische Armada entnerven könnte. Tritt dies ein, müsste auch die Hymne „Football's Coming Home“ umgeschrieben werden, die das ständige englische Scheitern selbstironisch thematisiert. Mittlerweile 58 Jahre der Schmerzen wären dann passé. Was dann auf der Insel los wäre, kann sich wohl jeder selbst ausmalen.