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Schwache Auftritte, aber nervenstarkEnglands Träume nach dem Sieg über das Trauma

Lesezeit 4 Minuten
Englands Torhüter Jordan Pickford pariert den Elfmeter des Schweizers Manuel Akanji.

Englands Torhüter Jordan Pickford pariert den Elfmeter des Schweizers Manuel Akanji.

Die Engländer feiern nach dem Viertelfinal-Sieg gegen die Schweiz im Elfmeterschießen Torhüter Pickford und einen Spickzettel.

Die Leistung war erneut äußerst überschaubar, aber das war der englischen Nationalmannschaft nach dem Viertelfinal-Sieg im Elfmeterschießen gegen die Schweiz (5:3) reichlich egal. Die Spieler feierten ausgelassen mit ihren Fans, sich selbst und vor allem Torhüter Jordan Pickford. Und die Fans im Anschluss einen Spickzettel.

Denn auf der Trinkflasche des Keepers hatte ein Zettel geklebt mit detaillierten Anweisungen über die Schuss-Gewohnheiten der Schweizer Spieler. Nach der Überschrift: „Schweiz Elfmeterschießen“ folgten 18 Einträge. Für den Schützen Manuel Akanji lautete der Tipp „dive left“, also Parade links unten. Während die aufgewachten englischen Fans hinter dem Tor ihre Faxen machten, lief der einstige Dortmunder als Erster an für die Schweiz. Und der erfahrene Profi von Manchester City drückte den Ball auch noch in besagte Ecke. Ein zugegeben sehr schwacher, unplatzierter Versuch, aber der Torhüter hätte ja auch in die andere Ecke springen können. Doch Pickford war da, es war der einzige Fehlschuss des Abends. Und auch der einzige Unterschied, warum nun die Briten und nicht die Eidgenossen im Halbfinale stehen.

England-Torwart Jordan Pickford klebte sich einen Spickzettel zu den Schweizer Schützen an seine Trinkflasche.

Keeper Jordan Pickford klebte sich einen Spickzettel zu den Schweizer Schützen an seine Trinkflasche.

Jahrzehntelang waren Elfmeterschießen für die Engländer nationale Traumata gewesen. Seit 1990 hatten englische Keeper überhaupt nur sechs Versuche beim Elfmeterschießen pariert, von 1990 bis 2012 waren es sogar nur zwei von 36 Versuchen. Doch seit Pickford im Tor steht, können sie plötzlich auch vom wunden Punkt gewinnen. Evertons Torhüter parierte in drei Duellen vom Punkt vier von 14 Strafstößen. Mit ihm gewannen sie drei von vier Elfmeterschießen und bei dem einen, das sie verloren (im EM-Finale 2021 gegen Italien), hielt Pickford zwei Elfer.

Euro 2024: Englands Traum vom ersten Titel außerhalb der Insel

England träumt jetzt vom Titel. Es wäre der erste außerhalb der Insel und der zweite nach dem bisherigen einzigen Triumph, der mittlerweile sagenhafte 58 Jahre her ist: der Erfolg bei der Heim-WM 1966. Am Mittwoch (21 Uhr, Dortmund) steht das Southgate-Team nun tatsächlich im Halbfinale, in dem es auf die Niederlande trifft.

Denn die Auftritte der Engländer waren bisher alles andere als glanzvoll. Als Nationaltrainer Gareth Southgate während der Pressekonferenz auf die unattraktive Spielweise der „Three Lions“ angesprochen wurde, entgegnete der Ex-Verteidiger ein gequältes „Sorry. Wenn sie nicht gefällt, dann tut es mir leid.“ Schützend stellte sich der 53-Jährige vor seine Spieler: „Das sind nicht einfach nur Fußballspiele, sondern nationale Events mit riesigem Druck. Und wir sind jetzt im dritten Halbfinale beim vierten großen Turnier – nicht so schlecht, oder?“

An Trainer Southgate prallt die Kritik an der Spielweise seines Teams ab

Der Charakter des Starensembles scheint in der Tat intakt zu sein, die Moral gut und die Nerven stark. Doch die mit Topstars wie Harry Kane, Phil Foden und Jude Bellingham gespickte Mannschaft gibt weiter Rätsel auf, spielt über weite Strecken Stand- und Sicherheitsfußball. Die Schweiz war in der 75. Minute durch ein Tor von Stürmer Breel Embolo in Führung gegangen, doch diese hielt nur fünf Minuten, da Bukayo Saka noch nach einer Einzelaktion zum 1:1 ausglich. In der Verlängerung waren dann am Ende die Eidgenossen dem Sieg näher, doch Xherdan Shaqiri traf nur das Lattenkreuz, Zeki Amdouni hatte ebenfalls noch die Chance zum Sieg.

Die „Three Lions“ scheinen also auch mit dem Glück im Bunde zu sein. So war es bereits im Achtelfinale, als sie sich gegen die Slowakei erst durch ein Tor in der sechsten Minute der Nachspielzeit in die Verlängerung gerettet hatten. Doch innerhalb der Mannschaft hat man allem Anschein nach eine Wagenburg-Mentalität entwickelt, die Kritik prallt ab – vor allem die internationale Kritik. Er sei „so, so stolz“ auf seine Spieler, weil diese es „so, so gut“ machten, befand Southgate doch glatt. Es benötige auch weit mehr als fußballerische Klasse, um bei einem Turnier erfolgreich zu sein. Southgate lobte seine Mannschaft über den grünen Klee: „Diese Spieler zeigen unglaubliche Qualitäten: Charakter, Widerstandsfähigkeit. Sie nehmen jede Herausforderung an, sind zweimal nach Rückstand zurückgekommen und haben ein Elfmeterschießen gewonnen.“ „Held“ Pickford unterstrich die „Mentalität und unseren Zusammenhalt“.

Und Torschütze Saka, der beim dramatisch verlorenen EM-Finale 2021 gegen Italien im Elfmeterschießen vergeben hatte und nun gegen die Schweiz seinen Versuch sehr sicher verwandelte, träumt schon vom Finale in Berlin. „Man kann einen Fehlschlag haben, aber man muss wieder aufstehen. Es sind hoffentlich zwei Spiele, die unsere Leben ändern und Geschichte schreiben“, sagte Saka, der 2021 ebenso wie die weiteren Fehlschützen Jadon Sancho und Marcus Rashford teilweise rassistischen Anfeindungen erlebt hatte. Auch bei Southgate war dieses traurige Kapitel in Erinnerung, wohl auch deshalb schloss der Coach den Matchwinner innig in die Arme: „Es ist ein Traum, mit ihm zu arbeiten. Wir freuen uns für alle, aber ganz besonders für ihn.“