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Kommentar

Kommentar zu Julian Nagelsmann
Wie der Bundestrainer Fußball als Metapher aufs ganze Land überträgt

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Lesezeit 3 Minuten
06.07.2024, Bayern, Herzogenaurach: Fußball: EM, Pressekonferenz nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft mit den Tränen bei der Abschluss-Pressekonferenz. Foto: Christian Charisius/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Pressekonferenz nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft: Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft mit den Tränen bei der Abschluss-Pressekonferenz.

Bundestrainer Julian Nagelsmann gibt in der Niederlage dem Land mehr Selbstbewusstsein und Wir-Gefühl als zuletzt in Politik und Gesellschaft zu hören waren.

Julian Nagelsmann hat für einen Moment das Fußballfeld verlassen. Er hat sich als Nationaltrainer an die Nation gewandt. Ausgehend von den vielen Fans, die bis zum EM-Aus erst mitgefiebert und dann mitgelitten haben, lautet seine Botschaft nicht nur für den Sport: „Wir brauchen die Menschen im Land vereint hinter uns“.

Da steht ein 36-Jähriger, der Deutschland in der Niederlage unter Tränen mehr Selbstbewusstsein und Wir-Gefühl gibt als zuletzt in Politik und Gesellschaft zu hören waren. Er redet gegen Trübsal und Kompromisslosigkeit an und äußert nur einen Wunsch: dass wir als Land zusammenhalten.

Hoffnung auf EM im eigenen Land

Ton und Inhalt seiner Ansprache sind nach dem 1:2 gegen Spanien nicht hoch genug zu schätzen. Der Krieg in der Ukraine, steigende Preise, Hochwasserkatastrophen, Klimawandel, eine streitende Ampel-Koalition, die Angst vor dem eigenen Abstieg – das alles befördert eine kollektive tiefe Verunsicherung und spürbare Deprimiertheit. Auch deshalb war die Hoffnung groß, dass die Europameisterschaft im eigenen Land neuen Auftrieb gibt. Dass zwar die Bahn nicht pünktlich kommt, Wohnungen schwer zu finden sind und die ausgeuferte Bürokratie einem das Leben schwer macht – aber Deutschland im Fußball wieder Erfolg hat.

Nagelsmann betont es selbst, es gibt Wichtigeres als Fußball. Aber wichtig für das Land ist, wie er und sein Team nach dem verlorenen Viertelfinale vom Platz gehen. Denn nicht nur eingefleischte Fans sind am Freitagabend in ein Loch gefallen. Auch Leute, die sich nur für Länderspiele interessieren, sind bekümmert. Es schleicht sich ein Gefühl ein, dass gar nichts mehr klappt in diesem Land. Man hätte es dieser Mannschaft außerdem so sehr gegönnt, weiterzukommen. Und hier setzt ihre Leistung für die Gesellschaft an. Denn sie ist wieder zum Vorbild geworden.

Menschen können sich hinter der Mannschaft versammeln

Nagelsmann hat es geschafft, eine sowohl fußballerisch als auch mental starke National-Elf zu bilden. Im Zweifel geht er auch gegen eine so selbstbewusste Mannschaft wie Spanien lieber ins Risiko, als in der Defensive zu verharren. Das merken auch Menschen, die von Fußball wenig Ahnung haben. Da ist ein Team, das zupackt und verbindet. Beim Public Viewing liegen sich die Menschen spontan in den Armen, weil der 21-jährige Florian Wirtz in der 89. Minute das Tor zum Ausgleich schießt. Und es erfüllt sie mit Stolz, dass ihnen ausländische Fans Respekt vor der „Mannschaft“ zollen. Auf deutsch.

Gegen Spanien fehlte am Ende das Glück. Nicht die Leistung, der Einsatz, der Wille, die Teamfähigkeit. Hinter einer solchen Mannschaft können sich die Menschen versammeln. Kaum jemanden dürfte es kalt gelassen haben, was Nagelsmann über den Zustand der Gesellschaft gesagt hat.

Zu viel Tristesse, immer nur reflexhafte Kritik an Politikern („die können nix“), man spricht von Problemen statt von Lösungen, man macht allein am Bergsee ein Selfie für Instagram, statt sich wie früher im Verein zu engagieren, und übersieht die Chancen dieses wunderbaren Landes.

Deutschland muss sich als Team aufstellen

Nun gilt es, Nagelsmanns Rede an die Nation nachwirken zu lassen. Er hat jeden und jede aufgerufen, sich selbst einzubringen und mit Schwarzmalerei aufzuhören. Denn es lohnt sich, für dieses Land einzustehen. Wie beim Fußball muss es sich als Team aufstellen. Mit unterschiedlichen Stärken und Rollen. Einer bügelt für den anderen eine Schwäche aus, jeder steckt mal zurück, alle können anpacken, der Erfolg ist immer die gemeinschaftliche Leistung, die Niederlage nur der Ansporn, es das nächste Mal zu schaffen. Nebenbei: Wer so tickt wie die Mannschaft unter Julian Nagelsmann, hat auch die Solidarität des Landes.

Und nun Kopf hoch. Mit gesenktem Haupt spielt – und lebt – es sich schlecht.